Texte über meine Fotografie


SICHTWEISEN

Dieses Gespräch mit Werner Rauber führte Nicole Nix im Mai 1997 anläßlich der Ausstellung  "Sichtweisen" in Neunkirchen/Saar,  Galerie im Museum Bürgerhaus

(veröffentlicht im Katalog zur Ausstellung: Werner Rauber, Sichtweisen: Fotografische Arbeiten, 20. Juni - 27. Juli 1997, Galerie im Museum Bürgerhaus, 66538 Neunkirchen, Herausgeber: Neunkircher Kulturgesellschaft gGmbH)

N. N.: Trotz der pluralistischen Erscheinungsformen zeitgenössischer Fotografie ist der Diskurs zwischen den beiden großen Richtungen der sachlich-dokumentierenden Fotografie auf der einen Seite und den Vertretern visualistischer Konzepte auf der anderen noch immer aktuell. Mit Ihren fotografischen Arbeiten bieten Sie dem Betrachter "Sichtweisen" an, d.h. es geht Ihnen weniger um das Motiv und dessen objektive Wiedergabe, als vielmehr um seine möglichen Lesarten. Wie einige Ihrer Werkgruppen zeigen, können diese Sichtweisen aber durchaus auch dokumentarischen Charakter haben. Wo sehen Sie Ihren Standort?

W.R.: Der unterschiedliche Ansatz wird sehr treffend ausgedrückt durch die englische Wendung "to take a picture - to make a picture". Für meine Fotografie möchte ich diese Polarität jedoch nicht gelten lassen, schon weil ich diese beiden fotografischen Arbeitsweisen für mich nicht trennen kann. Fotografie ist zwar immer abhängig von den sichtbaren Gegebenheiten, aber auch das um Objektivität bemühte dokumentarische Foto muß aufgrund der medialen Bedingungen und Einschränkungen fragwürdig bleiben. Deshalb kann Fotografie niemals objektiv sein. Ich finde hier eher einen graduellen Unterschied, der fließend ist. Objektives und Subjektives gehen ineinander über.

N. N.: Was bedeutet das konkret für Ihre fotografische Arbeit, bei der Sie ja seriell vorgehen und unterschiedliche Schwerpunkte setzen?

W.R.: Fotografie ist für mich vor allem ein Hilfsmittel, um mit dem, was ich sehe, umzugehen. Man kann meine Arbeitsweise vergleichen mit dem Notieren von Gedanken, die man später parat haben will, um etwas Bestimmtes zu formulieren. Auf diese Weise fotografiere ich, um dann mit dem "Rohmaterial" umzugehen. Das kann eher dokumentarisch sein - wenn ich beispielsweise wie bei der Serie meiner Bergehalden-Bilder Veränderungen zeigen will, die sich im Laufe der Jahre vollziehen - oder ich benutze dieses fotografische Rohmaterial, um Wirklichkeit neu zu gestalten, weil mir die Fotografie dazu geeignet scheint. Sie ist, entgegen der immer noch weitverbreiteten Meinung, eben nicht das Medium, das Wirklichkeit gültig, wahr und authentisch wiedergibt.

N.N.: Was veranlaßt Sie dazu, eine Bergehalde über nunmehr 26 Jahre hinweg immer wieder vom gleichen Standort aus zu fotografieren?

W.R.: Ausgangspunkt war für mich zunächst der ästhetische Reiz des Motivs. Dann habe ich beobachtet, wie sich dieses Motiv in relativ schneller Zeit verändert. Zum einen natürlich bedingt durch den Wechsel der Jahreszeiten, die den schon bewachsenen Stellen jeweils ein anderes Gesicht gaben, aber die Halde nahm auch von Jahr zu Jahr eine andere Gestalt an. Sie veränderte sich durch Aufschüttungen, also durch Eingriffe des Menschen, wie auch durch die Natur, etwa durch neuen Bewuchs oder Erosionen. Ich werde die Veränderungen weiter fotografisch verfolgen, nicht nur als Dokumentation einer Landschaft, sondern auch als Dokumentation einer Sichtweise.

N. N.: Hat sich denn Ihre Sichtweise, mit der Sie diesem Motiv begegnen, während der Jahre ebenfalls verändert?

W.R.: Ich selbst bin durch diese Arbeit dazu veranlaßt worden, meine Fotografie immer wieder kritisch zu hinterfragen. Rückblickend frage ich: Was von all diesen Jahren halten die Fotos eigentlich fest außer dem ständig wechselnden äußeren Erscheinungsbild? Was wird später noch von der ursprünglichen Bedeutung dieser unbrauchbaren, aufgeschütteten Erde zu erkennen sein, die man wieder der Natur überlassen hat? So hat sich mein Interesse als Fotograf vom Motiv hin zu der grundsätzlichen Uberlegung verlagert, was Fotografie überhaupt von der Wirklichkeit wiedergeben kann.

N.N.: Bis sich die Fotografie als Gattung der Kunst etabliert hatte, wurde ihre vermeintliche Authentizität ja kaum infrage gestellt. Erst als sie in den siebziger Jahren begann, ihre Medialität zu reflektieren und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit zu analysieren, gerieten die ihr traditionell zugeschriebenen Wahrheitskriterien ins Wanken. Muß die medienkritische Auseinandersetzung Aufgabe künstlerischer Fotografie sein, um so eine bewußtere Rezeption zu fördem?

W.R.: Ich betrachte dies als eine ihrer wichtigsten Aufgaben, durch die sie sich ja gerade von der Flut der zweckgebundenen Gebrauchsfotografie abgrenzt. Die Allgegenwärtigkeit fotografischer Bilder vermittelt uns nicht Wirklichkeit, sondem ein Konstrukt der Wirklichkeit. Wir sehen die Realität so, wie sie uns die Fotografie liefert, und hier entsteht ein bedenklicher Zirkel: Wir sprechen der Fotografie Realitätsgehalt zu, weil wir inzwischen gelernt haben, fotografisch zu sehen. Eine Chance, diesen Zirkel zu durchbrechen, sehe ich darin, die fehlende Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit im Bild selbst aufzuzeigen.

N.N.: Wie in Ihren aus Einzelfotos komponierten Arbeiten, die den Betrachter absichtlich irritieren, weil sie sich seiner ldentifikationserwartung widersetzen. Etwa indem sie mehrere Sichtweisen eines Motivs aneinanderreihen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen, obwohl sie sich lediglich durch den Wechsel des fotografischen Standpunktes ergeben haben.

W.R.: Ein ganz simples Beispiel dafür, daß man dem, was man im Foto sieht, nicht trauen kann. Eine weitere Möglichkeit des Mediums bietet mir die freie Kombination von Einzelfotos, die ich nach einem von mir geplanten Programm zu einem neuen Gesamtbild zusammensetze. Bei diesem Spiel mit fragmentarischen, fotografisch festgehaltenen Einzeleindrücken, die ich ansonsten nicht weiter verfremde, übertrage ich den Mechanismus, dem unsere Wahmehmung unterworfen ist, auf die Fotografie. Ich "mache mir ein Bild" aus einzelnen Bruchstücken der Wirklichkeit, die ich aussortiert und nach meinem individuellen Programm geordnet habe - ähnlich wie es unbewußt beim Sehen geschieht. Der Betrachter, der dieses Spiel natürlich durchschaut und die Bruchstückhaftigkeit erkennt, ist dennoch gezwungen, die Arbeit als Gesamtbild wahrzunehmen, das so mit der Wirklichkeit nie übereinstimmen kann.

N. N.: Indem Sie den einzelnen fotografischen Ausschnitt also nicht mehr als wirklichkeitsanaloges Bild präsentieren, sondem in serieller Reihung und damit tatsächlich als Ausschnitt, als Teil eines neuen, so noch nie gesehenen ästhetischen Zusammenhangs, fordem Sie den Betrachter zu ständigen Fragen und zur Reflektion über sein eigenes Sehen heraus. Steht dahinter nicht ein ziemlich didaktisch orientiertes Kunstkonzept?

W.R.: Ein idealistisches, würde ich sagen. Meine fotografische Absicht zielt nicht auf die Reproduktion der Wirklichkeit, sondern sie thematisiert unsere eingeschränkte und vorgeprägte Wahrnehmung dieser Wirklichkeit. Hierin sehe ich eine Möglichkeit der Fotografie, an der "Freiheit des Sehens" mitzuwirken. Doch hinter dieser rationalen, analytischen Ebene darf die ästhetische nicht zurücktreten. Es geht mir letztlich immer darum, ein gutes, stimmiges, oder wenn man so will, ein schönes Bild zu machen, und dies hat sehr viel zu tun mit Sinnlichkeit, mit reiner Augenlust.

***

Werner Rauber: "Vom fotografierten Abbild zum fotografischen Bild"     Serien, Sequenzen, Tableaus

Verschriftete Rede zur Eröffnung der Ausstellung in Dagstuhl/Saar von Professor Dr. Dietfried Gerhardus, Philosophisches Institut der Universität des Saarlandes, Mai 2000

Die Fotografie steht im Zenit ihrer Akzeptanzgeschichte als abbildende Bildkunst. Heute scheint sie in der Lage, sich sogar mit der nichtabbildenden Bildkunst zu verschwistern. Doch was "hält" Malerei und Fotografie "im innersten zusammen"? Die sich immer wieder neu stellende Frage nach dem Bild! Blicken wir hundert Jahre zurück.

Um 1900 erlebt die europäische Bildende Kunst einen Grundlagenstreit um die Abbildlichkeit des Bildes, ganz entscheidend mitverursacht durch die rasanten technischen Fortschritte der Fotografie in der Abbildlichkeit, schwarzweiß und bald auch in Farbe. Pikturale Repräsentation gerät in die Krise. Gegenüber den sogenannten Traditionalisten behielten damals die sogenannten Abstraktionalisten die Oberhand. Beiden Parteien ging es um die Befreiung des Bildes vom Abbild zum Bild. Dieser Grundlagenstreit spitzte sich in Deutschland zu z. B. zwischen dem Traditionalisten Max Beckmann und dem Abstraktionalisten Franz Marc, ungeachtet dessen, daß sich beide Künstler einem kritischen Bildbegriff verpflichtet fühlten. Die Wahl zwischen abbildendem, depiktivem oder bildendem, piktivem Bild ist am besten greifbar im Gliederungswechsel von der altehrwürdigen relationalen Bildkomposition, verstanden als hierarchisierendes Ausponderieren, zur computergeeigneten nicht relationalen Bildsyntax, verstanden als symmetrische gleichgewichtende Reihung, die auf das Bild als Eigenschaftsträger verwiesen bleibt.

Auf seiten der Fotografie ist das im wesentlichen apparative Zustande-bringen einer Abbildung heute bereits zu einem sowohl technik- als auch wissenschaftsgeschichtlichen Phänomen geworden. Damit scheint mindestens sichergestellt, daß die drängenden Fragen einer Fotobildsemantik nicht mehr mit den technischen Details apparativer Generierung eines Abbildes verwechselt werden. Nicht erst seit der Computer als digitales Fotolabor genutzt wird, sondern auch dazu, fotografische Bilder mediengerecht zu simulieren, steht in der gegenwärtigen Fotografie als Bildkunst die Abbildfunktion als Bindeglied zwischen Wirklichkeitsausschnitt und fotobildlicher Darstellung praktisch wie theoretisch auf dem Prüfstand. In der fotobildlichen Praxis unter der Überschrift "Gestaltung des Fotobildes im Rahmen technisch-apparativer Abbildlichkeit", in der Theorie des Fotobildes unter dem Titel der begrifflichen Gegenüberstellung von "Abbildfunktion und Bildfunktion".

In der heutigen Bildkunst, meine Damen und Herrn, stellt sich Werner Rauber dieser fotografischen Aufgabe. Sie bildet den Schwerpunkt in dieser Überblicksausstellung seiner Fotoarbeiten. Werner Rauber geht den Weg "Vom fotografierten Abbild zum fotografischen Bild", so der von ihm ausdrücklich gewählte Titel dieser Ausstellung. Im Untertitel, und darauf möchte ich eigens aufmerksam machen, verweist er nicht wie sonst üblich auf abbildend gewonnene Themen seiner "Fotoarbeiten", sondern auf deren präsentative Gliederungstypen: "Serien, Sequenzen, Tableaus". Mediengerechtheit versteht Werner Rauber als gestalterischen Handlungsspielraum, insofern er standardisierte Teile des fotografischen Mediums erkundet und auf ihre Bildmäßigkeit hin erprobt. Sein Metier ist nach wie vor die klassische Schwarzweißfotografie mit Kleinbild und Mittelformat als technischer Basis. Aus einem ganz einfachen Grund. Schon in der Erfindungsphase der Fotografie wurde Schwarzweiß als medieneigenes und obendrein nicht mit Abbildlichkeit im engeren Sinne zu verrechnendes Gestaltungsmittel erkannt und zügig entwickelt. Übrigens: Der ebenfalls sehr frühzeitig angestellte Vergleich der Schwarzweißfotografie mit der Handzeichnung bedarf nach wie vor des sorgfältigen Studiums und der begrifflichen Ausarbeitung.

Durch Belichtung und Entwicklung liefert das heute handelsübliche Material des Rollfilms einen Bild an Bild reihenden Negativstreifen, der gern zum Zweck der Einzelbildbeurteilung durch Kontaktstreifen bzw. Kontaktbögen als Positiv schon vor der Vergrößerung lesbar gemacht wird. Das Gitterwerk des Kontaktbogens zeigt in jeweils gleicher Größe wie das Negativ, schwarz gerahmt, die Einzelbilder. Diese durch Belichtung, Entwicklung und Kontaktbogen erschlossene Gitterstruktur verwendet Werner Rauber als Modell für die Gliederung seiner Fotoarbeiten, die Serie als Folge variierender Einzelbilder, die Sequenz als eigens geregelte Abfolge von Einzelbildern, etwa in der Ordnung des Nacheinanders von Aufnahmen des gleichen Motivs. In seinen Tableaus schließlich werden beide Gliederungstypen im horizontal-vertikalen Wechsel miteinander verschränkt. Strikt vertikal von unten nach oben oder strikt frontal ein Motiv aufzunehmen sind für Werner Rauber geeignete gestalterische Maßnahmen, insbesondere zentralperspektivische Vorgaben des technisch-apparativen Systems zu unterlaufen, das einzelne Fotobild in der Fläche zu halten und von temporalen (z. B. Tageszeiten, Jahreszeiten) bzw. topografischen Konnotationen (z. B. an diesem oder jenem Bauwerk aufgenommen) zu entblößen. Diese schon mit der Aufnahme eingeleiteten Maßnahmen werden in der seriellen oder sequenziellen Präsentation eigens unterstrichen. Als Beispiele dazu "Architekturen 1997" oder "Treppe 1992". Angesichts solcher Fotoarbeiten entpuppt sich eine der an Fotografen am häufigsten gestellten Frage: "Wo oder wann haben Sie das Bild gemacht?" als Scheinfrage.

Eine Bemerkung zu den gegenständlichen Aspekten in den Fotoarbeiten von Werner Rauber. Zum einen geht es um Natur, weniger als von selbst entstandene, vielmehr als durchkultivierte Landschaft, zum andern um selbstgemachte, hauptsächlich urbane Umwelt, als Architektur vor allem. Doch Werner Rauber behandelt keine natürlichen oder kultürliche Gegenstände im Ganzen. Meistens verwendet er nur ausgesuchte Details als gestalterische Mittel. Im komplexen Vorgang des Fotografierens von der Motivsuche bis zum fertigen Fotobild verwandelt er diese in geeignete Bildmittel, um Sichtweisen als visuelle "Weisen der Welterzeugung" (Goodman) zu vermitteln mit der Pointe, daß Unmittelbarkeit auch fotografisch nicht zu vermitteln ist.

Die zur fotografischen Gestaltung der Mittelbarkeit ingang gesetzten syntakto-semantischen Prozesse sind bei Werner Rauber durchgehend im Handeln fundiert. Er arbeitet daran, Entstehung von Sichtweisen durchschaubar zu machen. Beim Erzeugen fotografierter Abbilder geht es zunächst darum, aus der unser alltägliches Handeln begleitenden Wahrnehmung Sehweisen zu isolieren. Anhand dieser in Serien oder Sequenzen präsentierten Abbilder werden im fotografischen Bild Sichtweisen als selbständige visuelle Wahrnehmungsweisen emanzipiert mit dem Ziel, die fotografische Weltsicht kenntlich und somit kritisierbar zu machen. Dazu verwendet Werner Rauber etwa in "Landschaft mit 2 Bäumen" von 1993 das situative Nicht-sehen-Können als standortgebundenes Nicht-fotografieren-Können: ein motivisches Anfangsstück, paradigmatisch eingesetzt, um "Familienähnlichkeiten" Wittgensteinscher Prägung in fotobildlich provozierten Sichtweisen aufzudecken. Ludwig Wittgenstein erläutert in § 66 seiner "Philosophischen Untersuchungen": "...wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. (...) denk nicht, sondern schau!"

***

Wirklichkeit als ,,Rohmaterial" von Dr. Sabine Graf

Seit Anfang der achtziger Jahre beschäftigt sich Werner Rauber intensiv mit der Fotografie. Mit seinen Bildern will der Künstler die eingeschränkte und vorgeprägte Wahrnehmung unserer Wirklichkeit thematisieren.

Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, dass ein Foto mehr als die Oberfläche einer Sache, eines Menschen, der Welt abbilde, stellte Bertolt Brecht fest. "Authentisch" und "analog zur Wirklichkeit" ist vielmehr das, was sie gestaltet. Die im Englischen gebräuchlichen Fügungen "to make a picture - to take a picture", frei übersetzt "ein Bild machen" und "ein Bild nehmen", aus der Wirklichkeit heraus lösen, damit kann sich der Saarbrücker Fotograf Werner Rauber eher anfreunden, bekannte er in einem Interview, das die Leiterin der Galerie im Bürgerhaus Nicole Nix vor drei Jahren mit ihm führte.

Damals zeigte die Neunkircher Galerie Arbeiten des 1950 in Dudweiler geborenen Fotografen. Gerade ging eine Ausstellung im Internationalen Begegnungs- und Forschungszentrum für Informatik, Schloss Dagstuhl, zu Ende. Auch diese Werkschau, überschrieben mit "Vom fotografierten Abbild zum fotografischen Bild" gab einen Überblick über die Sichtweisen Raubers. Für ihn steht fest, dass eine um Objektivität bemühte und dem Dokumentarischen Priorität einräumende Fotografie fragwürdig ist.

Gewiss, objektive Begebenheiten sind vorhanden, doch auf Grund "der medialen Bedingungen und Einschränkungen" verwässern sie im Bild. Objektivität des Gegebenen und Subjektivität des Fotografen sorgen ihm für fließende Übergänge. Dergestalt, dass die Wirklichkeit als Sonnenblume, Baum oder Bergehalde sein, wie er sagt, "Rohmaterial" ist.

Ein Foto genügt dabei nie. Es müssen ,,Serien, Sequenzen, Tableaus" sein, die das Mitglied des Saarländischen Künstlerbundes zum Quadrat organisiert oder zur Abfolge reiht. Zeit spielt dabei eine Rolle und ist zugleich außen vor. Über 26 Jahre fotografierte Werner Rauber eine Bergehalde. Dokumentierte die Veränderung und zugleich, fügt er hinzu, seine sich verändernde Sichtweise. Als Komposition konzentrieren sie einerseits den Zeitverlauf und heben ihn andererseits auf. Die Folgen imitieren. Ein bewusster Akt, betont Rauber.

Nach einem je individuellen Programm setzt er die Fotos neu zusammen. Bewegung löst sich auf in Form. Die Horizontlinien seiner Landschaften gehorchen einem bestimmten Rhythmus. Das Auge stockt, bleibt an den Einzelbildern hängen. Sie sind nur im Gesamtbild einer Komposition zu fassen, aber dennoch nicht vollends zusammenzubringen. Sprünge, Irritationen setzt Werner Rauber bewusst ein, sagt er, um den Betrachter im Bild zu halten. Treppenstufen kombiniert er zu Mosaiken in sanften Grautönen. Modernistische Hausdächer werden zu düsteren Plastiken vor unentschieden grauem Himmel.

Details der Architektur hat Werner Rauber in den Arbeiten der letzten Jahre immer wieder herausgegriffen und neu formiert. Ebenso die krakeligen, dürren Arme von winter-kahlen Platanen, die in die Luft greifen. Man glaubt, die Orte zu kennen und scheitert doch immer wieder, wenn man die Bilder auf ihr reales Abbild zurückführen will.

Das Prinzip Rauber erweist sich nicht nur, aber vor allem in diesen Momenten als voll gültig. Wir müssen lernen uns von der Verbindung zum Tatsächlichen zu verabschieden. "Das Bild steht für sich", greift er eine Haltung der Fotokunst auf. Ob das nicht ziemlich didaktisch wäre?, fragte seinerzeit Nicole Nix den Fotografen.  "Idealistisch", meinte er, wäre das bessere Wort. "Meine fotografische Absicht zielt nicht auf die Reproduktion der Wirklichkeit, sondern sie thematisiert unsere eingeschränkte und vorgeprägte Wahrnehmung dieser Wirklichkeit. Hierin sehe ich eine Möglichkeit der Fotografie, an der "Freiheit des Sehens" mitzuwirken‘, fasste er sein künstlerisches Credo zusammen.

Dass ihm dabei die Qualität seiner Fotos nicht einerlei ist, sondern ein so genanntes "schönes Bild" beabsichtigt ist und die "Augenlust" befeuert werden soll, gehöre für ihn ebenfalls zu seinem Schaffen, schickte er nach. Das geschieht mit der gebotenen Langsamkeit. auch wenn die in ihrer Bewegung das Abbild verwischenden Autos auf einer Straße das Gegenteil vermuten ließen. Auch sie ein Bild. umso mehr als sie nur noch zu ahnen, als zu erkennen sind.

Als "äußerst gemächlich", beschreibt er seine Arbeitsweise. Erst Anfang der achtziger Jahre begann er sich intensiv mit der Fotografie zu beschäftigen, geleitet von den Fragen "Was mache ich eigentlich?", "Was will ich eigentlich?" Viel ausprobiert habe er in diesen Jahren, erzählt Werner Rauber. In Ruhe. Ja nicht heute etwas machen und morgen irgendwo ausstellen. Mitte der achtziger Jahre begann er allmählich bei den Vorläufern der späteren Landeskunstausstellung seine Arbeiten zu zeigen. Seit ein paar Jahren ist er von allen großen Ausstellungen, die hier zu Lande stattfinden, nicht mehr wegzudenken. Zusammen mit einer Hand voll im Saarland lebender Fotografinnen und Fotografen zeigte er vor zwei Jahren im Dillinger Schloss seine Arbeiten. Auch das ein Beweis. dass er mit seiner Fotografie einen Akzent in der Region setzt. So viel lässt sich über die Person des Fotografen sagen. Was zahlt, was bleibt, ist das Bild. Nicht das Abbild der Wirklichkeit. Es hinkt ihr hinterher wie der müde Hase dem kecken Igel. "Im Bild bleiben", sagt Werner Rauber",  ist wichtig. Und schauen was passiert." Das mag letztlich auch einen neuen Blick auf die Wirklichkeit jenseits des Bildes eröffnen.

 

erschienen in "Arbeitnehmer", Heft 8, August 2000, Zeitschrift der Arbeitskammer des Saarlandes

***

 

Alexander M. Groß drehte im Jahr 2004/2005 einen Film über meine Arbeit, der im Januar 2005 vom Saarländischen Rundfunk gezeigt wurde.

 

Texte über Fotografie

 

30 Jahre "Subjektive Fotografie",  1981 in "Saarbrücker Zeitung"

Neues Sehen,    1988 

Silberstreifen am Horizont,  1996    in: "Saarbrücker Hefte"   -   Künstlerische Fotografie im Saarland, eine Bestandsaufnahme

LAND SEHEN   1998

Fotografie als Medium , 2000

Fotografie als technisches Bildherstellungsverfahren,   2004 

Bekenntnis zum Medium Fotografie,  2006

Fotografien  -  fotografische Bilder,  2007

FarbenFotografie  2008

***

30 Jahre "Subjektive Fotografie"

Damals in Saarbrücken: Neuer Blick

Als Otto Steinert an der Werkkunstschule lehrte - Von Werner Rauber in : "Saarbrücker Zeitung" vom 15. 7. 1981

"Subjektive Fotografie", unter diesem Motto fand im Juli des Jahres 1951 in der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken eine heute fast schon legendäre Fotoausstellung statt, die großes Interesse weit über die Grenzen Deutschlands fand. Diese Fotoausstellung, der weitere internationale Ausstellungen folgten, kam auf Initiative des 1915 in Saarbrücken geborenen Otto Steinert zustande. Steinert, zum damaligen Zeitpunkt Leiter einer neu gegründeten Fotoklasse an der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk, war es gelungen, renommierte Fotografen für diese Ausstellung zu gewinnen -von denen nur Moholy-Nagy, Man Ray, Herbert Bayer, Bill Brandt, Brassai und Hajek-Halke- stellvertretend genannt seien. Ziel dieser Ausstellung war es u. a., das Publikum mit den avantgardistischen Stilrichtungen der Fotografie, auch aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, bekannt zu machen.

Otto Steinert, von Haus aus eigentlich Mediziner und als Fotograf Autodidakt, war aber nicht nur Initiator und Organisator dieser Fotoausstellung, sondern in Zusammenarbeit mit dem damaligen Saarbrücker Kunsthistoriker J. A. Schmoll gen. Eisenwerth zugleich Wegbereiter einer Bewegung zur Erneuerung einer gestalterischen und experimentellen Fotografie.

"Subjektive Fotografie" war nicht nur der Leitgedanke der besagten Fotoausstellung, vielmehr unternahmen Steinert und Schmoll in zwei die Ausstellungen begleitenden Bildbänden den Versuch, mit dem Begriff "Subjektive Fotografie" und seinem Pendant "Objektive Fotografie" die Fotografie schlechthin zu beschreiben und zu analysieren. Bei ihren Überlegungen gingen sie davon aus, daß es "zwei fotografische Sprachen" gibt, eine subjektive und eine objektive, die es voneinander abzugrenzen gilt.

"Subjektive Fotografie" wurde als Rahmenbegriff gewählt, "der alle Bereiche persönlichen Fotogestaltens vom ungegenständlichen Fotogramm bis zur psychologisch vertieften und bildmäßig geformten Reportage umfaßt." (O. Steinert, Subjektive Fotografie, Bonn 1952, S. 6). Diesem gegenüber stand der Begriff der "Objektiven Fotografie", unter dem alle Bereiche der allein reproduktiven Gebrauchs- und Dokumentarfotografie erfaßt sind.'

"Subjektive Fotografie" meinte folglich keine (neue) fotografische Stilrichtung, sondern mit diesem Begriff versuchten Steinert und Schmoll gen.Eisenwerth vielmehr, den Bereich der Fotografie, der bisher unter Bezeichnungen wie kreative, künstlerische, experimentelle, avantgardistische, schöpferische oder gestalterische Fotografie auftrat, auf einen Nenner zu, bringen. Diesen Gemeinsamen Nenner aller "Subjektiven Fotografie" sahen die beiden Initiatoren im persönlichen Gestaltungsvermögen des Fotografen, das trotz der technischen Bedingtheit des fotografischen Prozesses gegeben ist.

Im Mittelpunkt einer "subjektiven Fotografie" steht also das gestalterische Vermögen des Fotografen und nicht das zu fotografierende Objekt. Folglich wird ein Gegenstand nicht mehr um seiner selbst willen fotografiert, sondern nur noch in einer bestimmten Gestaltungsabsicht benutzt, ja er kann sogar ausschließ1ich als Formelement oder Baustein der Bildkomposition gesehen werden. "Wie bei allen Objektivationen ist auch für den gestalterischen Fotografen das Objekt nur der Gegenstand, an dem sich sein subjektives Empfinden objektiviert" (J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Subjektive Fotografie, Bonn 1952, S. 9).

Während unter einer reproduktiven fotografischen Abbildung lediglich das optische Registrieren mittels fotochemischer Vorgänge ohne subjektive Interpretation gemeint ist, gewinnt bei der darstellenden fotografischen Abbildung die persönliche Sicht des Fotografen bereits an Bedeutung, allerdings ist ausschlaggebendes Moment für eine solche Abbildung immer noch das schöne oder interessante Motiv. Erst mit der darstellenden fotografischen Gestaltung, bei der das Motiv nicht mehr um seiner selbst willen aufgenommen wird, beginnt für Steinert die "subjektive Fotografie", deren Höhepunkt schließlich die absolute fotografische Gestaltung ist, die entweder auf jede objekthafte Wiedergabe verzichtet (z. -B. Fotogramm oder Collage) oder aber durch die Möglichkeiten des fotografischen Prozesses den Gegenstand in der Sicht so weit abstrahiert, daß er nur noch Formelement, Baustein der Komposition wird.

Bei einer abschließenden Gesamtbetrachtung der Beschreibung und Analyse der Fotografie von Steinert und Schmoll gen. Eisenwerth sei hier dahingestellt, ob die Zweiteilung der Fotografie in einen subjektiven und einen objektiven Bereich dem Gesamtphänomen Fotografie gerecht wird bzw. ob diese Zweiteilung den heutigen Anforderungen einer kritischen Analyse des Mediums Fotografie standhält. Rückblickend kann aber mit Sicherheit gesagt werden, daß es ein nicht hoch genug zu schätzender Verdienst Otto Steinerts ist, die Fotografie gegen den jahrzehntealten Vorwurf, sie sei bloß mechanistische Reproduktion, verteidigt zu haben. Dankbare Erinnerung gebührt Otto Steinert schließlich auch für seine Tätigkeit als Professor für Fotografie, die er von 1948 bis 1959 in Saarbrücken und dann bis zu seinem Tode im Jahre 1977 in Essen ausgeübt hat und durch die er zahlreiche in- und ausländische Fotografie-Studenten ermutigte, ihr Medium gestalterisch im Sinne einer "subjektiven Fotografie" einzusetzen.

 

In der Zeit, in der dieser Artikel entstand, spielte die Fotografie im Saarland eine nur untergeordnete Rolle. Der Weg von Fotografien ins Museum war noch lange nicht geebnet. Man stritt sich, nicht nur im Saarland, noch immer um die Frage, ob Fotografie überhaupt Kunst sein könne.

Leider hat es dann noch rund 20 Jahre gedauert, bis dem Saarländer Otto Steinert auch im Saarland die ihm gebührende Anerkennung als einer der wichtigsten Fotografen und Lehrer der Nachkriegszeit in Deutschland zuteil wurde. Allerdings nahm die übernommene Ausstellung, die im Februar 2000 in der Modernen Galerie in Saarbrücken eröffnet wurde, ihren Ausgangspunkt im Museum Folkwang in Essen, wo sich auch der Nachlass und die von Otto Steinert initiierte Foto-Sammlung befinden.

Den wenigen saarländischen Schülern Otto Steinerts aus dessen Zeit an der Schule für Kunst und Handwerk ( Monika von Boch, Kilian Breier, Harald Boockmann, Hanne Garthe, Joachim Lischke ) erging es in der damaligen Zeit nicht viel besser als ihrem Lehrer. So zeigte das Saarland Museum erst im Februar 1982 eine umfassende Werkschau der wohl bedeutendsten saarländischen Fotografin Monika von Boch. Doch auch diese Wanderausstellung wurde von dem einstigen "Weggefährten" Steinerts und Spiritus rector der "Subjektiven Fotografie" Professor Dr. J.A. Schmoll genannt Eisenwerth in München zusammengestellt und konzipiert. Die Würdigung der berühmten Fotografin erfolgte erst in der "Fremde", dann, mit dem bei uns üblichen zeitlichen Verzug, im Saarland.

***

Neues Sehen      Werner Rauber 1988       (Auszug )

........... In diesem  Zusammenhang  möchte ich  auf eine fotografische "Bewegung" hinweisen, die bereits in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts unter der Bezeichnung "Neues Sehen" in die Fotogeschichte eingegangen ist. 

Den Vertretern dieses "Neuen Sehens", Alexander Rodtschenko, Laszlo Moholy-Nagy, Raoul Hausmann, Man Ray, Umbo, um nur einige zu nennen, ging es damals nicht mehr ausschließlich um das Was, sondern auch um das Wie des fotografischen Sehens. Weniger das Sehen neuer Dinge war Ziel ihrer fotografischen Arbeit, sondern das neue Sehen vertrauter Dinge. Erklärte Absicht dieses Vorgehens war es, die Konventionalität und die Beschränktheit unseres Sehens aufzudecken, herkömmliche Seh- und Sichtweisen in Frage zu stellen, um dadurch neue Seh- und Sichtweisen zu initiieren. "Um den Menschen zu einem neuen Sehen zu erziehen, muß man alltägliche, ihm wohl bekannte Objekte von völlig unerwarteten Blickwinkeln aus und in unerwarteten Situationen zeigen".   (Alexander Rodtschenko, Fotografien 1920 - 1938, Köln 1978, S. 93 )

Rodtschenkos Kritik entzündete sich vor allem an der Macht der Gewohnheit beim Fotografieren, aber auch am Einfluß der Malerei auf die Fotografie. "Nimm die Kunstgeschichte oder die Geschichte der Malerei, und du siehst, daß alle Bilder mit unbedeutenden Ausnahmen entweder vom Bauchnabel aus oder aus der Augenhöhe gemalt sind."  ( A. Rodtschenko, ebenda, S. 54 )  Deshalb forderte Rodtschenko damals eine Fotografie der ungewohnten Blickrichtungen: "Die interessantesten Standpunkte der Gegenwart sind die Standpunkte von oben nach unten und von unten nach oben und ihre Diagonalen"(A. Rodtschenko, ebenda, S. 57 ) Diese, sicherlich zeitbedingten Forderungen von A. Rodtschenko leben in zeitgemäßer Form bis auf den heutigen Tag weiter, ohne ihre Berechtigung verloren zu haben.

Ähnlich, aber noch tiefgreifender,  kritisierte auch der Fotograf Raoul Hausmann unser Sehen. Er spricht von der "toten Mechanik unseres Sehens", das eigentlich gar nicht Sehen, nicht Wahrnehmung ist, sondern nur "Trennung der lebendig-dynamischen Erscheinungen in lauter rubrizierte Klassen, Kategorien und Begriffe."   ( Raoul Hausmann, zitiert nach Andreas Haus, Raoul Hausmann, Kamerafotografien 1927 - 1957, München, S. 42 ) Folglich nimmt ein Mensch auf Grund einer solchermaßen verkürzten Wahrnehmung und auf Grund dieser einseitigen rational-funktionalen Prägung bei der Begriffsbildung nur ein Bruchteil dessen wahr, was sich seiner Wahrnehmung tatsächlich bietet. 

Dass diese Gedanken über das Sehen bereits in der klassischen modernen Kunst eine Rolle gespielt haben, zeigen die Schriften des  Kunsttheoretikers Conrad Fiedler. Er  schrieb bereits  1876  bezüglich unserer vielfältigen Zwängen und Einschränkungen unterliegenden visuellen Wahrnehmung: "Schon im gewöhnlichen Leben beharrt der Mensch bei der Anschauung nur bis zu dem Punkte, wo ihm das Einlenken in die Abstraktion möglich wird. ...und jede Anschauung, die sich ihm aufdrängt, entschwindet ihm als Anschauung, sobald der Punkt erreicht ist, wo er mit seinem Begriffsvermögen gleichsam einhaken und aus der Anschauung das herausziehen kann, was er nur zu häufig für deren einzig wesentlichen Inhalt hält" (  Conrad Fiedler, Schriften über Kunst, Köln 1977, Seite 45)  Der Mensch eignet sich "von den Gegenständen, die sich seiner Wahrnehmung darbieten, meist Bilder an, die sich aus nur sehr wenigen von allen Elementen zusammensetzen, die die Gegenstände der Wahrnehmung wirklich bieten". ( Conrad Fiedler, ebenda Seite 49 ) Conrad Fiedler kreidet diese Verkümmerung der Wahrnehmung einer Erziehung an, die "sich fast ausschließlich auf das Vermögen, Begriffe zu bilden", erstreckt. ( Conrad Fiedler, ebenda Seite 51 )

 Andreas Müller-Pohle  griff  Ende der Siebziger Jahre diese Gedanken des  "Neuen Sehens" wieder auf und  prägte für die entsprechende  "fotografische Haltung" den Begriff  "Visualismus"  ( Andreas Müller-Pohle, in European Photography, Heft Nr. 3, 1980, Göttingen ), während Joan Fontcuberta seit etwa der gleichen Zeit von der "Kontravision", dem "fotografischen Umsturz der Realität" spricht. (Joan Fontcuberta, in Fotografie, Heft Nr. 9, 1979, Göttingen)

Müller-Pohle begründete und beschrieb die Aufgabe der visuellen Künste folgendermaßen: "Was wir - mehr automatisch als bewußt - zur Kenntnis nehmen, sind Dinge und Ereignisse als Träger von Bedeutungen: von Konventionen darüber, welches der Nutzen, die Funktion, der Kontext und folglich das "richtige" Aussehen einer Sache zu sein haben. Die Realität der Bedeutungen verdeckt die visuelle Realität der Dinge, paßt sie in Schablonen, reduziert sie auf Formeln. Diesen Formalismus der "gewöhnlichen Wahrnehmung" zu durchbrechen, um die visuelle Welt in ihr gemäßen Ordnungszusammenhängen sichtbar zu machen, ist die Aufgabe der visuellen Künste; in der Fotografie ist es vorrangig die Aufgabe des Visualismus....Visualismus ist Sichtbarmachung der visuellen Welt durch Verletzung, Aufbrechung, Verfremdung von Bedeutungsrealität, ist - unter gestalterischen Gesichtspunkten - sperrige, widrige Sprache, die Fragen aufwirft, nicht Antworten gibt." Diese visualistische Fotografie grenzte Müller-Pohle ab von einer dokumentarischen Fotografie, die "ein primär sachliches und objektbezogenes Interesse" hat.  ( Andreas Müller-Pohle, in European Photography, Heft Nr. 3, 1980, Göttingen, S. 8/9 )

***

 

Silberstreifen am Horizont in: "Saarbrücker Hefte", Heft 75, März 1996

Künstlerische Fotografie im Saarland, eine Bestandsaufnahme von Werner Rauber

Vorsichtiger Optimismus für künstlerische Fotografie im Saarland scheint wieder angesagt. Im Jahr 1995 gab es zwei nennens- und sehenswerte Ausstellungen, bei denen saarländische mit dem Medium Fotografie arbeitende Künstler und Künstlerinnen so nachdrücklich in Erscheinung traten, daß der Eindruck von einer lebendigen saarländischen "Foto-Szene" entstand. Zum einen initiierte und betreute Wolfgang Pietrzok eine Ausstellung "393 Jahre Fotografie, 10 Künstler x ein Medium" im saarländischen Künstlerhaus, bei der Ehrenhold Beck, Heinz Diesel, Tom Heikaus, Halona Hilpertz, Hans Husel, Ingeborg Knigge, Wolfgang Pietrzok, Werner Rauber, Petra Scheer und Susanne Wilms ihre sehr unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Medium Fotografie präsentierten. Aus einer Vielzahl von Bewerbern wurden diese zehn Künstler und Künstlerinnen von einer Jury ausgewählt, die sich mit Kilian Breier, Klaus Hinrich und Dr. Rolf H. Kraus ausschließlich aus nicht-saarländischen Fachleuten zusammensetzte. Ziel dieser Ausstellung war es, die Öffentlichkeit mit gegenwärtigen Tendenzen künstlerischer Fotografie bekanntzumachen und zu zeigen, wie vielfältig Fotografie für künstlerische Konzepte genutzt werden kann.

Zum anderen präsentierte die "Landeskunstausstellung 1995" in der Modernen Galerie sogar elf Künstler und Künstlerinnen mit ihren fotografischen Arbeiten bzw. Arbeiten mit Fotografien. Es scheint, daß die Landeskunstausstellung, die seit 1987 im Zweijahresrhythmus durchgeführt wird, zu einem wichtigen Forum auch für künstlerische Fotografie geworden ist. Denn hier hat das kunstinteressierte Publikum die Möglichkeit, unterschiedliche Arbeitsweisen in der Fotografie bzw. mit Fotografie in einer gemeinsamen Ausstellung kennenzulernen..

Auf jeden Fall waren die saarländischen Künstler und Künstlerinnen, die mit Fotografie arbeiten, schon seit Jahren zahlenmäßig nicht mehr in dieser Dichte aufgetreten und zu begutachten gewesen. Aber auch qualitätsmäßig waren die beiden Ausstellungen, die durch die Teilnahme von Studierenden der HBK Saar belebt wurden, sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Die Mehrzahl der beteiligten Fotografen und Fotografinnen ist bei diesen beiden Ausstellungen vom Einzelbild und von einer allein reproduktiven Fotografierweise abgerückt, um in inszenierten Fotosequenzen oder Fotomontagen zum Beispiel persönliche Empfindungen offenzulegen, skurrile Geschichten zu erzählen oder Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen. Dabei wurden die syntaktischen und medienspezifischen Möglichkeiten des Mediums ausgelotet und innovativ und experimentell angewendet. Dies ist um so bedeutungsvoller, da künstlerische Fotografien für die breite Öffentlichkeit noch immer Fotografien sind, die "künstlerisch" bestenfalls durch die Imitation von Arbeitsweisen, Stilrichtungen oder längst überkommenen Kompositionsregeln der Malerei werden. Aber solange bei uns im Lande selbst Kunst-Fachleute, Rezensenten oder Kritiker (der "Saarbrücker Zeitung") Fotografien gegenüber oft "sprachlos" sind und sie aus dieser Verlegenheit heraus mit Werken der Malerei vergleichen und mit entsprechenden Begriffen belegen, braucht man sich nicht zu wundern, wenn der Fotografie im Bewußtsein der Öffentlichkeit nur eine der Malerei untergeordnete Rolle und keine eigene (Medien-)Geschichte und Tradition zugestanden wird. Auch die Besetzung der Jurys bei allen bisher durchgeführten Landeskunstausstellungen ohne spezielle Fotografie-Fachleute zeugt von dieser untergeordneten Rolle der Fotografie. Noch immer gilt Fotografie als "illegitime Kunst", wie es Pierre Bourdieu sehr pointiert formuliert hat..

Zwar gab es in den letzten Jahren so manche Ausstellung von saarländischen Fotografen und Fotografinnen, aber von einer saarländischen "Foto-Szene", die mit dem Medium Fotografie und für das Medium Fotografie die Initiative ergreift oder gar "Trends" setzt, war weit und breit wenig zu sehen.

Die letzte gemeinsame Aktivität geht zurück in das Jahr 1988, als sich einige saarländischen Fotografen und Fotografinnen zusammentaten und in der Bosener Mühle "Neue Bilder" vorstellten. Doch weitere gemeinsame Initiativen sind damals sehr schnell im Sande verlaufen, weil weder das Bedürfnis bestand noch die Notwendigkeit gesehen wurde, als Gruppe aufzutreten.

Dieser schon Jahrzehnte dauernde desolate Zustand der künstlerischen Fotografie im Saarland ist deshalb um so bedauerlicher, weil das Saarland sich einen bedeutenden Platz in der Geschichte der Fotografie gesichert hat, die untrennbar mit dem Namen Otto Steinert und seiner "Subjektiven Fotografie" verbunden ist. Startschuß für diesen fotografischen Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg war die Ausstellung "subjektive fotografie, internationale Ausstellung moderner Fotografie" in der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken im Jahre 1951. An dieser Schule war Otto Steinert als Leiter einer Fotoklasse Kollege von Boris H. Kleint, Hans Neuner und Oskar Holweck, die der Bauhaus-Tradition verpflichtet waren und sicherlich wesentliche künstlerische Anregungen gaben. Die von Otto Steinert organisierte, heute fast schon legendäre Fotoausstellung, der 1954/55 eine zweite und 1958 eine dritte gleichnamige Ausstellung folgten, fand großes Interesse weit über die Grenzen Deutschlands. Otto Steinert war es gelungen, renommierte Fotografen, wie z.B. Moholy-Nagy, Man Ray, Herbert Bayer, Bill Brandt, Brassai und Hajek-Halke, für diese Ausstellung zu gewinnen. Ziel dieser Ausstellung war es, das Publikum mit den avantgardistischen Stilrichtungen der Fotografie, auch aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, bekannt zu machen. Die damals gezeigten Arbeiten, die häufig auf wiederentdeckte Vorbilder aus der Bauhaus-Zeit und des "Neuen Sehens" aus den 20er Jahren verwiesen und bei denen Experimente aus dieser Zeit fortgeführt wurden, boten entgegen den konventionellen Fotoschauen tatsächlich Ungewöhnliches: kontrastreiche Abzüge, radikale Ausschnitte, Strukturen, surreal wirkende Situationen, Motive, die bewußt unscharf gehalten waren oder durch ihre eigene Bewegung verwischt erschienen, Negativabzüge und Solarisationen sowie Bilder mit dominierenden Schwarzflächen.

Otto Steinert, von Haus aus eigentlich Mediziner und als Fotograf Autodidakt, war aber nicht nur Initiator und Organisator dieser Fotoausstellung, sondern in Zusammenarbeit mit dem Saarbrücker Kunsthistoriker J. A. Schmoll gen. Eisenwerth zugleich Wegbereiter einer Bewegung zur Erneuerung einer gestalterischen und experimentellen Fotografie. "Subjektive Fotografie" war nicht nur der Leitgedanke der besagten Fotoausstellung, vielmehr unternahmen Steinert und Schmoll gen. Eisenwerth in zwei die ersten beiden Ausstellungen begleitenden Bildbänden den Versuch, mit dem Begriff "Subjektive Fotografie" und seinem Pendant "Objektive Fotografie" die Fotografie schlechthin zu beschreiben und zu analysieren. Bei ihren Überlegungen gingen sie davon aus, daß es "zwei fotografische Sprachen" gibt, die es voneinander abzugrenzen gilt.

"Subjektive Fotografie" wurde als Rahmenbegriff gewählt, "der alle Bereiche persönlichen Fotogestaltens vom ungegenständlichen Fotogramm bis zur psychologisch vertieften und bildmäßig geformten Reportage umfaßt." Diesem gegenüber stand der Begriff der "Objektiven Fotografie", unter dem alle Bereiche der allein reproduktiven Gebrauchs- und Dokumentarfotografie erfaßt wurden. Den gemeinsamen Nenner aller "Subjektiven Fotografie" sahen die beiden Initiatoren im persönlichen Gestaltungsvermögen des Fotografen, das trotz der technischen Bedingtheit des fotografischen Prozesses gegeben ist.

Rückblickend ist es ein nicht hoch genug zu schätzender Verdienst Otto Steinerts, sich für die Anerkennung der Fotografie als einem eigenständigen, künstlerischen Medium eingesetzt zu haben, und die Fotografie gegen den jahrzehntealten Vorwurf, sie sei bloß mechanistische Reproduktion, verteidigt zu haben.

Leider wurde diese Geschichte der Fotografie nicht im Saarland fort- und zu Ende geschrieben, sondern in Essen, wo Otto Steinert 1959 eine Berufung an die Folkwang Schule für Gestaltung annahm. Mit diesem Wechsel nach Essen kam er einer Schließung der in der Öffentlichkeit nicht nur beliebten Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk ( "Schule für Schund und Schandwerk" ), der schon seit 1957 ständig die Auflösung drohte, zuvor. Tatsächlich endete mit dem Weggang Otto Steinerts und der kaum später erfolgten Schließung der Schule nicht nur diese überaus fruchtbare Zeit, die das Saarland in Sachen künstlerische Fotografie wenigstens für kurze Zeit zum "Nabel der Welt" werden ließ, sondern diese so innovative Phase der Fotografie, die weltweit Fotogeschichte machte, verschwand zugleich für viele Jahre aus dem saarländischen (Kunst-)Bewußtsein und ließ das Saarland zu der fotografischen Provinz werden, unter der wir heute noch leiden. Keine einzige Fotografie Steinerts oder seiner saarländischen Schülerinnen und Schüler Monika von Boch, Hanne Garthe, Harald Boockmann und Joachim Lischke war damals in saarländischen Museen zu begutachten, ganz zu schweigen von Fotografien anderer Fotografen.

Die wichtigsten Foto-Ausstellungen mit Arbeiten saarländischer Fotografen und Fotografinnen, von denen nicht nur die Schülerinnen und Schüler Steinerts im großen und ganzen noch dem Gedankengut einer "Subjektiven Fotografie" verpflichtet waren, sind schnell aufgezählt: in der Galerie St. Johann, wo der künstlerische Leiter der Galerie, Jo Enzweiler, schon damals als einer der wenigen Ausstellungsmacher ein "offenes Auge" für künstlerische Fotografie hatte, fand 1973 eine Ausstellung mit den experimentellen Weißblecharbeiten von Monika von Boch statt, im Saarland Museum gab es 1977 eine Fotoausstellung u. a. mit M. v. Boch, J. Lischke, H. Garthe und D. Orlopp statt, der 1979 die Ausstellung "Künstlerische Bildnisfotografie" folgte.

Erst im Februar 1982 zeigte das Saarland Museum eine umfassende Werkschau von den zwischen 1950 und 1980 entstandenen Bildern der wohl bedeutendsten saarländischen Fotografin Monika von Boch. Doch ein Wermutstropfen trübte das an sich so erfreuliche Ereignis dieser Fotoausstellung einer großen saarländischen Fotografin. Diese Wanderausstellung wurde von dem einstigen "Weggefährten" Steinerts und Spiritus rector der "Subjektiven Fotografie" Professor Dr. J.A. Schmoll genannt Eisenwerth in München zusammengestellt und konzipiert und nicht, wie es doch zu wünschen und zu erwarten gewesen wäre, in der Heimat von Monika von Boch. Die Würdigung der berühmten Fotografin erfolgte erst in der "Fremde", dann, mit dem bei uns üblichen zeitlichen Verzug, im Saarland. Doch immerhin wurde mit dieser Ausstellung der Anfang einer Reihe sehenswerter Fotoausstellungen im Saarland Museum gemacht.

Eine dieser beachtenswerten Ausstellungen war die des fotografischen Werkes von Robert Häusser. Am Rande bemerkt: der damalige Museumsdirektor G.-W. Költzsch regte im Rahmen der Eröffnung dieser Ausstellung 1983 einen "Otto-Steinert-Preis" an, auf den die Fotografen aber bis heute leider vergeblich warten.

Es folgte dann im Oktober 1985 die Ausstellung "subjektive fotografie", bei der jetzt endlich auch in Saarbrücken das zu sehen war, was vor über dreißig Jahren von hier aus internationale Wirkung zeigte. Aber auch diese Ausstellung nahm ihren Ausgang nicht in Saarbrücken, sondern im fernen San Francisco, und Saarbrücken war eine Ausstellungsstation unter vielen. Mit Stolz wurde bei der Eröffnung darauf verwiesen, daß die Geschichte der "Subjektiven Fotografie" ihren Ausgang von Saarbrücken nahm, mit Bedauern aber vermerkte J. A. Schmoll gen. Eisenwerth auch, daß diese Geschichte im Saarland nicht weitergeführt wurde.

Schließlich dauerte es noch weitere vier Jahre bis im Jahre 1989 im Saarland Museum Arbeiten des 1978 verstorbenen Otto Steinerts gezeigt wurden, die vor mehr als 30 Jahren in Saarbrücken entstanden waren. Zum denkwürdigen Ereignis wurde diese Ausstellung, weil die "Stiftung Saarländischer Kulturbesitz" auf Vermittlung von J.A. Schmoll gen. Eisenwerth über 80 Originalfotografien aus dem Nachlaß Otto Steinerts erwerben konnte und sie nun hier der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Allerdings konnte dem Wunsch, diesen erworbenen Schatz in einer ständigen Ausstellung mit entsprechendem Katalog zu bestaunen, bis heute (noch) nicht Rechnung getragen werden. Die Arbeiten Otto Steinerts und der Nachlaß Monika von Bochs sind, da es leider keine eigene Abteilung für Fotografie im Saarland Museum gibt, der umfangreichen Abteilung Grafik zugeordnet und bedürfen noch der viel Zeit und Geld in Anspruch nehmenden wissenschaftlichen und konservatorischen Aufarbeitung.

Immerhin kann man in der seit November 1991 nach langem Erwarten eröffneten "Landesgalerie des Saarland Museums" sieben Fotografien Steinerts, darunter das berühmte "Appell"- Bild von 1950 und das ebenfalls sehr bekannte Bild "Stilleben mit Pfeiffe" von 1958 bewundern. Auch die Fotografien aus dem Nachlaß der 1993 verstorbenen Monika von Boch und die Fotogramme und Foto-Chemigrafiken des ehemaligen Steinert-Assistenten und gebürtigen Saarländers Kilian Breier, dem die Galerie St. Johann bereits 1987 und das Saarland Museum 1990 Ausstellungen gewidmet hatten, vermitteln einen ersten Einblick in die Werke großer Fotografen. Leider kann man alle gezeigten Fotografien aus Platzgründen lediglich im engen Treppenhaus begutachten. Allerdings scheinen mir die Foto-Arbeiten der jüngeren saarländischen Fotografengeneration eher zufällig ausgewählt. Auf keinen Fall sind sie, weder von der Auswahl noch von der Qualität her, repräsentativ für das, was in letzter Zeit im Saarland im Bereich künstlerische Fotografie erarbeitet wurde.

Darüber hinaus gab es in der Zwischenzeit viele Gelegenheiten, sich mit zu Geschichte gewordenen "Stilrichtungen" bzw. mit neuen "Trends" in der Fotografie bekanntzumachen und auseinanderzusetzen. Stadtgalerie, Saarländisches Künstlerhaus und Saarland Museum zeigten in den vergangenen Jahren Foto-Ausstellungen mit Rudolf Bonvie, Thomas Florschuetz, Hetum Gruber, Jochen Gerz und Astrid Klein, um nur einige zu nennen. Bezüglich des Ausstellungsangebotes von mehr oder weniger renommierten nicht-saarländischen Fotografen und Fotografinnen können wir uns im Saarland inzwischen nicht mehr beklagen. Doch mangelt es im Saarland für einheimische Fotografen und Fotografinnen seit Jahren an geeigneten Ausstellungsorten, an fotobegeisterten Galeristen und Museumsdirektoren, an fotosachverständigen Kritikern und Rezensenten, an Sammlern und an öffentlicher Förderung, kurz: ermutigende Arbeitsbedingungen fehlen. Zudem trugen der bis Anfang der 80er Jahre dauernde äußerst reservierte Umgang mit der eigenen fotografischen Vergangenheit bzw. mit der Fotografie schlechthin und die Tatsache, daß es die Staatliche Schule für Kunst und Handwerk seit Anfang der 70er Jahre in der alten Form nicht mehr gab, im Saarland zu der erwähnten Provinzialität in Sachen künstlerischer Fotografie bei. Die Chance, mit der Gründung der Fotogalerie "objektiv" im Jahre 1985 in Saarbrücken durch das persönliche Engagement der Fotografin Monika Zorn, eine feste Anlaufstelle für künstlerische Fotografie im Saarland zu installieren, war schnell vertan. Dieser privat finanzierten Galerie war nur eine kurze Lebensphase gegönnt. Allerdings kann man die künstlerischen Fotografen und Fotografinnen auch nicht ganz von der Kritik ausnehmen. Im Grunde genommen haben nämlich viele von ihnen lange Jahre alleine vor sich hingewurstelt, anscheinend mehr von der Angst vor Konkurrenz beseelt als von dem Bestreben, Erfahrungen auszutauschen, die Initiative zu ergreifen und gemeinsam die künstlerische Fotografie wieder hoffähig zu machen. So braucht man sich nicht zu wundern, wenn die saarländische "Foto-Szene" in den 70er und 80er Jahren den Anschluß an die bundesdeutsche oder gar europäische Entwicklung größtenteils verloren hat und einen äußerst geringen Stellenwert einnahm.

Gerade deshalb finde ich nun diese eingangs genannten Ausstellungen so ermutigend, weil nach meiner Meinung nur durch solche gemeinsamen Aktivitäten in konzentrierter Form die künstlerische Fotografie im Saarland ihr seit Jahren währendes Mauerblümchendasein in Zukunft überwinden kann. Deshalb wäre es jetzt an der Zeit, u.a. eine jährliche Ausstellungsreihe "Kunst mit Fotografie" ins Leben zu rufen, der gegenwärtigen künstlerischen Fotografie einen Platz in der saarländischen Landesgalerie einzufordern, einen Förderverein für künstlerische Fotografie zu gründen, einen (Förder-)Preis für künstlerische Fotografie auszuloben und Fotografie an der HBK als Lehr- und Ausbildungsfach einzurichten, damit angehende Künstler nicht nur die handwerklichen Grundlagen des Mediums, sondern auch seine Geschichte erfahren können.

***

Fotografie als technisches Bildherstellungsverfahren            Werner Rauber  2003 

"Die Fotografie ist zu einer Alltagserscheinung geworden. Aber gerade ihre Allgegenwart hat sie gewissermaßen unsichtbar gemacht." Dieses Zitat von Gisele Freund aus dem Jahr 1968 bringt den Umgang mit Fotografie als Massenmedium auf den Punkt. Fotografien werden, obwohl oder gerade weil sie als alltägliches Gebrauchsgut aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken sind, häufig unreflektiert sowohl hergestellt wie auch wahrgenommen. In unserer Kultur sind Fotografien so selbstverständlich, da man schon in frühester Kindheit automatisch und unbewusst lernt, mit Fotografien umzugehen, so dass man ihre spezifischen Eigenschaften und Eigenarten als solche gar nicht mehr bemerkt oder hinterfragt. So wird das Betrachten einer fotografischen Abbildung einer Landschaft, eines Gegenstandes oder einer Person oft mit dem Betrachten einer tatsächlichen Landschaft, eines tatsächlichen Gegenstandes oder einer tatsächlichen Person, kurz: mit dem Betrachten der Wirklichkeit, gleichgesetzt. Dieses "fotografische" Sehen wird sogar gleichgesetzt mit richtigem oder objektivem Sehen, obwohl es nur eine unter mehreren menschlichen Wahrnehmungsweisen ist.

Um mit den hier kurz skizzierten Missverständnissen gegenüber dem Medium Fotografie aufzuräumen, werden in dem folgenden Text die medienspezifischen Eigenschaften der Fotografie dargestellt und aufgezeigt, dass eine Fotografie etwas anderes ist als bloßer Wirklichkeitsersatz, etwas anderes als ein Analogon der Wirklichkeit und dass das Betrachten einer fotografischen Abbildung der Wirklichkeit nicht einfach mit dem Betrachten der Wirklichkeit selbst gleich gesetzt werden kann.

Medienspezifische Eigenschaften der Fotografie

Wie jede Erfindung ist die Fotografie um 1839 nicht von heute auf morgen lediglich auf Grund technischer Entwicklungen im "luftleeren Raum" entstanden, sondern sie ist Folge und Verwirklichung eines Jahrhunderte alten (Künstler-) Wunsches nach perfekter Abbildung der Natur bzw. der Wirklichkeit. Die Fotografie als bilderzeugendes Medium ist eben nicht nur ein besonderes Herstellungsverfahren, sondern sie ist auch "Umsetzung" einer in der Renaissance aufkommenden neuen Sichtweise, bei der ein Objekt zum "Gegenüber" des Betrachters wird, was einer positivistischen Einstellung zur Welt und einem "wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse", dem es um eine präzisere Erfassung und Beschreibung von Wirklichkeit geht, entgegenkommt.

Bezüglich der Herstellungsweise von Fotografien muss man zunächst einmal festhalten, dass der fotografische Prozess im Gegensatz zu anderen Bildherstellungsverfahren mittels Apparaten abläuft. Im fotografischen Prozess werden auf mechanischem, optischem und chemischem Weg automatisch, d.h. ohne direktes menschliches Eingreifen, perspektivische Bilder erzeugt, die auf den Prinzipien der auf den Maler und Begründer renaissancistischer Kunsttheorie Leon Battista Alberti ( 1404 - 1472 ) zurückgehenden perspektivischen Projektion beruhen. Eine Fotografie ist die Projektion eines Objektes durch die Kameralinse auf die Filmebene, wobei die Kameralinse das Projektionszentrum darstellt. Einerseits bleiben gewisse geometrische Eigenschaften des fotografierten Objektes, z.B. Fluchtlinie, Einfallswinkel, Schnittpunkt und Geradlinigkeit erhalten, da Fotokameras nach den Gesetzen der projektiven Transformationen konstruiert sind. Jede Fotografie erzeugt nach diesen feststehenden, unveränderlichen medienspezifischen ( Projektions- ) Gesetzen ein Abbild von etwas im Moment der Aufnahme "Dagewesenem" ( Roland Barthes, "Es-ist-so-gewesen", 1989 ) wie die Fußspur im Sand Zeugnis ablegt von dem Fuß, der den Abdruck hinterlassen hat.

Betrachtet man dieses Entstehungsverfahren isoliert, so lassen sie eine Fotografie vorschnell als bloßer Wirklichkeitsersatz, als Analogon der Wirklichkeit erscheinen und verleiten dazu, das Betrachten der Wirklichkeit mit dem Betrachten einer fotografischen Abbildung dieser Wirklichkeit gleichzusetzen. Übersehen werden dabei allerdings wichtige Aspekte des Herstellungsprozesses und übersehen wird vor allem das fertige Produkt Fotografie und eine in gewisser Weise vorgegebene Betrachtungs- und Gebrauchsweise.

1. In der Regel ist eine Fotografie eine starke Verkleinerung der abgebildeten Wirklichkeit. Dies bedeutet einerseits, dass man das Abgebildete meistens mit einem Blick erfassen kann und den Kopf nicht zu bewegen braucht. Ebenso wenig muss man die Augenlinsen an unterschiedliche Entfernungen anpassen. Beim Betrachten der Wirklichkeit selbst erfordert das Sehen vom Betrachter viel mehr Aktivität. Die Verkleinerung bedeutet aber andererseits, dass wir tatsächliche Größen, Umfänge und Abstände der verkleinert abgebildeten Objekte mehr oder weniger mühsam aus dem Kontext erschließen müssen. Durch den Ausschnitt wie auch durch die Verschiebung der Größenverhältnisse können die Dinge oft auch einen neuen Sinn erhalten, wenn die Vergleichsmöglichkeiten mit der Umwelt fehlen. Dann wird ein Ding seiner ursprünglichen im täglichen Leben gebräuchlichen Bedeutung beraubt. Es findet eine Verfremdung und Irritation statt.

2. Der Fotoapparat funktioniert wie unser Sehen perspektivisch, er setzt die dreidimensionale Wirklichkeit nach den Gesetzen der illusionären Zentralperspektive, allerdings „einäugig", in ein verkleinertes, zweidimensionales Bild um. Er reduziert Räumlichkeit auf Fläche. Räumlichkeit und Tiefe sind in einer Fotografie nicht mehr vorhanden, sie werden nur noch angedeutet, z.B. wird durch schräg nach oben oder unten laufende Linien der Eindruck von Tiefe erweckt, wird durch Schatten Plastizität vorgetäuscht, wird durch unterschiedlich große Abbildung von an sich gleich großen Gegenständen unterschiedliche Entfernung suggeriert oder wird durch Überschneidungen und Verdeckungen vorne bzw. hinten angedeutet. In der zweidimensionalen Fotografie gewinnen Linien und Überschneidungen ungeheuer an Bedeutung, verstärkt durch die Begrenzung auf ein Viereck.

Durch die Verwendung unterschiedlicher Brennweiten werden die Tiefendistanzen entweder verkürzt (Teleobjektiv ) oder gedehnt ( Weitwinkelobjektiv ).

3. Im Gegensatz zur natürlichen menschlichen Wahrnehmung mit einem weiten Blickfeld durch ständige Augenbewegungen präsentiert eine Fotografie immer nur einen, von einem Blickpunkt erfassten und zentralperspektivisch geordneten Ausschnitt der Wirklichkeit. Dies hat zur Folge, dass Teile der Wirklichkeit ausgegrenzt werden. Darüber hinaus erscheint die meistens rechteckig ausgeschnittene Wirklichkeit durch dieses Rechteckformat wie von einem "Rahmen" umgeben. Dadurch ist sie ganz anders konzentriert als der entsprechende Anblick der Wirklichkeit, die wir immer randlos, unbegrenzt sehen. Dieser (gedachte) Rahmen isoliert das in ihm festgehaltene Bild von der alltäglichen Umgebung, hebt es aus dieser heraus und löst damit auch das Abgebildete aus seinen Zwecken und Absichten des täglichen Lebens.

Durch die Begrenzung kann das Auge nicht hin und her schweifen, es wird festgehalten und auf den Anblick konzentriert. Alle Teile der Fotografie liegen, im Gegensatz zur Betrachtung in der Wirklichkeit, auf einer Sehebene und erlangen dadurch auch gleiche Bedeutung. In der Natur sind nämlich die näheren und entfernteren Teile des Bildes nie gleich deutlich erkennbar, sie treten nie mit derselben Klarheit gleichzeitig ins Bewusstsein.

Ebenso macht die im Bild erscheinende Wirklichkeit einen geordneteren Eindruck, als das in Wirklichkeit der Fall ist. Der Rahmen ordnet auch die Wahrnehmung des Bildausschnittes, weil durch ihn ein Bildaufbau, eine Komposition entsteht, bei der alle Formen, Flächen, Linien und Farben im Bild Eigenbedeutung erhalten und das Auge führen. Dabei spielt auch das Verhältnis der einzelnen Bildteile untereinander und das Verhältnis der einzelnen Teile zum Ganzen in Bildzusammenhängen wie Symmetrie, Gleichgewicht, Proportion und Rhythmus eine wichtige Rolle.

Das Sehen einer Fotografie bzw. eines Bildes bekommt folglich als ästhetisches Sehen, ausgerichtet auf die Eigenbedeutsamkeit des Sichtbaren, eine ganz andere Qualität als das übliche Sehen im täglichen Leben, wo wir eher flüchtig die Außenwelt lediglich mit der Absicht betrachten, uns in dieser Außenwelt zu orientieren.

4. Unsere alltägliche Art und Weise des Sehens lässt unseren Blick ständig umherschweifen, wobei nacheinander verhältnismäßig kleine Wirklichkeitsausschnitte betrachtet werden. Da wir nur um ein relativ kleines Zentrum scharf sehen und die Schärfe nach außen abnimmt und da der Entfernungsbereich, innerhalb dessen wir klar und deutlich sehen können, auch erstaunlich klein ist, muss das Auge die Scharfeinstellung ständig anpassen. Diese Anpassung geschieht so schnell, dass sie normalerweise nicht bewusst wird. In einer Fotografie ( z.B. einer Landschaft ) wird der von ihr abgebildete Wirklichkeitsausschnitt in einer Weise präsentiert, wie man ihn in Wirklichkeit nie sehen könnte. Bei einer solchen Fotografie ist im Normalfall der scharf erscheinende Bereich, der mittels der Blendeneinstellung veränderbar ist, um vieles größer als bei der Betrachtung vor Ort mit dem bloßen Auge. Darüber hinaus erlaubt eine Fotografie auch das Nebeneinander von Schärfe und Unschärfe (z.B. scharfer Vordergrund und unscharfer Hintergrund oder umgekehrt) als Gestaltungsmittel, was bei der Naturbetrachtung selbst nicht möglich ist.

5. Weil eine einzelne Fotografie einen Bruchteil einer Sekunde „einfriert", ist sie auf einen Augenblick begrenzt. In jedem Foto tritt die Wirklichkeit absolut bewegungslos in Erscheinung. Eine solche, absolute Bewegungslosigkeit kommt in der Wirklichkeit so gut wie nie vor. Deshalb erlaubt es eine Fotografie, einen für die Ewigkeit festgehaltenen Moment immer wieder zu betrachten, ja zu studieren, ohne dass ständig neu hinzukommende Dinge ( wie auch beim Betrachten eines Filmes ) vom Auge verarbeitet werden müssten. Soll in einer Fotografie Bewegung zum Ausdruck kommen, so täuscht der Fotograf sie durch Verwischung (- sunschärfe ) vor.

6. Bei jeder unmittelbaren Betrachtung der Wirklichkeit wird nicht nur das Auge angesprochen, sondern man hört Geräusche, man spürt den Wind, man empfindet Wärme oder Kühle, man riecht etwas. Zwar kann man sich in der Regel auf nur wenige Sinneseindrücke konzentrieren und sie bewusst wahrnehmen, aber trotzdem würde man ihr Fehlen in der Natur auf Dauer vermissen. Da eine Fotografie aber nur festhält, was man sieht, wird die volle Aufmerksamkeit beim Betrachten einer Fotografie ohne Ablenkung durch andere Sinneseindrücke auf das Sehen gelenkt.

7. Das Kameraobjektiv ist tatsächlich objektiv im Sinne von ( wert- ) neutral und demokratisch, da es die sichtbare Wirklichkeit, die sich in seinem Aufnahmebereich befindet, von A bis Z fotografisch aufzeichnet. Alles, was sich vor der Linse befindet, ist gleich gültig und wird ohne Rücksicht auf Wert, Gefallen oder Bedeutung registriert. Ob Abfallcontainer oder Kathedrale, alles Sichtbare wird unbarmherzig im Foto festgehalten; auch das, was unser Auge beim Betrachten einer Sache "ausblendet", erscheint im Foto scharf und detailreich abgebildet.

8. Wie der Fotograf bei der Aufnahme die "Welt" zu seinem Gegenüber macht und einen festen Standpunkt einnimmt, so betrachtet man eine Fotografie von einen privilegierten, neutralen Beobachterstandpunkt; man hat einen bestimmten Abstand zu dem Abgebildeten oder zu dem Geschehen, man gehört nicht dazu, man ist nicht beteiligt, man kann mit dem Gesehenen umgehen, wie man will. Beim Wahrnehmen z.B. einer Landschaft steht man dagegen mitten in dieser Landschaft, man ist sozusagen ein Teil dieser Landschaft. Fotografieren heißt folglich nicht nur, Abbilder mittels Apparaten herzustellen, sondern auch die Wirklichkeit auf eine ganz bestimmte Art und Weise, nämlich "fotografisch", zu sehen.

9. Die natürliche Farbigkeit wird durch das fotografische Verfahren in ein spezifisches Farbspektrum umgesetzt, das durch die Eigenschaften des chemischen Materials beim Film bzw. Fotopapier bestimmt ist. Bei der Herstellung des Foto- und Filmmaterials richtet sich die Fotoindustrie nicht unbedingt danach, größtmögliche Natürlichkeit zu erzielen, sondern sie möchte auch dem vermeintlichen Käufergeschmack ( nach bunten Bildern ) Rechnung tragen..

Bei einer Schwarzweißfotografie werden verschiedene Farben als unterschiedliche Grauwerte wiedergegeben. Dunkle Farben wie Blau, Violett usw. erscheinen im Schwarzweißfoto als dunkles Grau, helle Farben wie Gelb erscheinen als helles Grau usw. Diese Umsetzung von Farben in Grauwerte bedeutet eine weitere "Verfremdung" bzw. Abstraktion der Fotografie gegenüber der Wirklichkeit, die nur äußerst selten absolut farblos ( = grau in grau ) ist. Da Farben auch eher Stimmungen und Gefühle evozieren, wirken Schwarzweißfotos diesbezüglich "neutraler" und lenken deshalb den Blick stärker auf abgebildete Gegenstände und ihre Oberflächenbeschaffenheit. Durch das Fehlen der Farbe gewinnen Licht und Schatten ein größeres Gewicht.

Fazit: Aus den aufgeführten Gründen ist zu sehen, dass eine Fotografie trotz ihres Apparatecharakters keineswegs wie von selbst echt, zuverlässig, glaubwürdig, d.h. authentisch sein kann. Auch wenn im fotografischen Prozess auf mechanischem, optischem und chemischem Weg automatisch, d.h. ohne direktes menschliches Eingreifen, perspektivische Bilder erzeugt werden, ist Fotografie kein "nicht-manipulierendes, objektives" Abbildungsverfahren, das eine einfache Transkription von Wirklichkeit in ein Bild zulässt. Jeder fotografische Abbildungsprozess ist, obwohl er den technischen Bedingungen des Verfahrens unterliegt, mehr oder weniger subjektiv und manipulativ. Der Fotograf entscheidet im Moment der Aufnahme und bei der Weiterverarbeitung des Film- bzw. Datenmaterials, welchen Ausdruck er dem subjektiv gewählten Ausschnitt verleihen will.

Obwohl die Kamera unserer perspektivischen Sehweise analog arbeitet, kommt es durch die oben dargestellten medienbedingten Einschränkungen zu einer Reihe von Veränderungen, die die Eindeutigkeit von Rückschlüssen auf die konkrete Objektwelt in Frage stellen. Das Abgebildete und das Abbild sind nicht identisch. Eine Fotografie ist nie Reproduktion, sondern immer Transformation von Wirklichkeit, da sie in Ausschnitten abbildet und während des Abbildens auch umformt. Das Bruchstück der Wirklichkeit, das eine Fotografie bietet, kann einen Betrachter entsprechend auch täuschen. Was in einer einzelnen Fotografie erscheint, kann aus dem räumlichen und aus dem zeitlichen Zusammenhang gerissen und dadurch "gelogen" sein. Eine Fotografie kann die Wirklichkeit nie ersetzen, sie kann lediglich ein Anstoß für einen Betrachter sein, über Wirklichkeit nachzudenken. Fotografie zeichnet nicht nur in ihrem Rahmen Wirklichkeit auf, sie schafft auch eine eigene, fotografische Wirklichkeit.

Bei aller Kritik an dem Medium Fotografie und bei allem Hinterfragen des fotografischen Abbildes in seinem Verhältnis zum Abgebildeten, muss man doch einräumen, dass es zum Beispiel mit Hilfe einer (Porträt-)Fotografie eines Menschen einem Fotografie gewohnten Betrachter möglich ist, diesen Menschen aus einer Gruppe von Menschen zu identifizieren oder dass es möglich ist, aus einer Menge von Fotografien die Fotografie eines bekannten Menschen herauszufinden. Das heißt, dass es grundsätzlich möglich ist, eine (Porträt-)Fotografie dem fotografierten Menschen, bzw. den fotografierten Menschen seinem fotografischen Abbild, zuzuordnen. Ohne diese Eigenschaften wären alle Passfotos oder Fahndungsfotos zwecklos.

***

 

Fotografie als Medium     Werner Rauber   2000

Bis Ende der 80er des 20. Jahrhunderts wurde bezüglich des Mediums Fotografie vorwiegend die Frage diskutiert, ob Fotografie Kunst sein könne und somit ins Museum gehöre. Ausgangspunkt für diese Frage war die Tatsache, dass Fotografien seit der Erfindung der Fotografie eher mit den Werken der (traditionellen) bildenden Kunst verglichen wurden, anstatt die Eigenständigkeit dieser durch Apparate hergestellten technischen Bilderzeugnisse in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen.

Bei einer kritischen Betrachtung des Mediums Fotografie müssen im Einzelnen reflektiert werden

- die medienimmanenten Aspekte

    - der fotografische Herstellungsprozess mit seinen feststehenden Gesetzmäßigkeiten bei der Abbildung der Wirklichkeit und die Eingriffsmöglichkeiten in diesen Prozess

- die medialen/kommunikativen Aspekte

    - die Gebrauchsweisen von Fotografien im Allgemeinen und die Gebrauchsweise einer bestimmten Fotografie in einem bestimmten Kontext

- die ästhetischen/wahrnehmungsspezifischen Aspekte

    - die entstandene Fotografie als Abbild und Bild mit den ihr eigenen visuellen Qualitäten und Eigentümlichkeiten und ihren Wirkungen auf den Betrachter.

***

 LANDSehen  Altes Schloß Dillingen,  24. 5. 1998 - 14. 6. 1998

 

 

„Land sehen“ heißt ein inzwischen vergriffener Bildband der saarländischen  Fotografin Monika von Boch ( 1915 - 1993 ), der 1981 im Qeißer - Verlag in Dillingen erschienen ist. In diesem Bildband lenkt Monika von Boch unseren Blick weg von der üblichen Bedeutung der Dinge und ihrem Stellen­wert  auf ihre innere Struktur.  Sie zeigt uns  Landschaften, Felder, Bäume und Felsen zum Teil so abstrahiert und vom Ausschnitt her begrenzt,  dass nur  ihre formalen Strukturen für uns sichtbar bleiben.

In den hier gezeigten  fotografischen Arbeiten, denen ich, mit Verlaub, den gleichen Titel „Land sehen“ gegeben habe, möchte ich den zweiten Wortteil des Titels, das Sehen,   stärker betonen. Mit meinen Fotografien möchte ich  weniger auf die Faszination von Landschaften und Bäumen und ihrer Strukturen hinweisen, sondern durch die vor der Kamera stattfindenden ( „Versteck- ) Spiele“ und durch die serielle Arbeitsweise soll das Haupt­augenmerk auf die Struktur unseres Sehens in seinen Abhängigkeiten  und Beschränktheiten  gelenkt werden.

 

( Werner Rauber 1998)

Architektur Sehen

Eine Fotografie setzt die dreidimensionale Wirklichkeit nach den Gesetzen der illusionären Zentralperspektive in ein verkleinertes, zweidimensionales Bild um. Räumlichkeit und Tiefe sind in einer Fotografie nicht mehr vorhanden, sie werden nur noch vorgetäuscht. Der in diese Technik eingeübte Betrachter wird die Fotografien entsprechend "lesen" können.  Durch das spielerische Zusammenfügen  mehrerer Fotografien entsteht ein fotografisches Bild mit verschiedenen Fluchtpunkten und unterschiedlichen Perspektiven, die das Auge beim "Umherwandern" im Bild  irritieren, da die gewohnte räumliche Wahrnehmung nicht mehr funktioniert. 

 

"FarbeSehen",  Schloss Dagstuhl,  Internationales Begegnungs- u. Forschungszentrum für Informatik,   2008    ( Auswahl )

Fotografien, die gemeinhin als objektiver Wirklichkeitsersatz gelten, weil sie von einem Apparat ohne direktes Zutun eines Menschen hergestellt werden, unterliegen der Gefahr, einseitig und verkürzt wahrgenommen zu werden. Sie verfallen als tägliches Gebrauchsgut einem quasi automatischen, am Wiedererkennungsschema orientierten, rein zweckmäßigen Wahrnehmungsprozess, dem es nur um die Aufnahme von Informationen geht: erblicken, erkennen, identifizieren, auf den Begriff bringen, einordnen. Es wird  ausgeblendet, dass jede Fotografie eine wie auch immer geartete Transformation eines Gegenstandes in ein zweidimensionales Bild ist. 

Mein Anliegen seit mehr als 40 Jahren Arbeit mit dem Medium ist es zu zeigen, dass eine Fotografie nicht nur ein sklavisches Abbild der gegebenen Wirklichkeit mit der Zielsetzung nach Identifikation usw. ist, sondern dass sie immer auch Bild ist, bei dem es um Visualität und Ästhetik,  um  Ordnungen, Größen und Proportionen, um Linien, Formen und Flächen, um Helligkeiten, Farben und Farbübergänge geht. Das visuelle Geschehen auf der Bildfläche einer Fotografie darf deshalb nicht auf die auf ihr sichtbaren und identifizierbaren Abbildungen und ihre Bedeutung verkürzt werden. Eine Fotografie ist nicht nur ein Code, der zu entziffern ist, sondern sie ist auch ein Bild, das geschaut werden kann.

Digitale Montagen

Simulacra

Eine Fotografie setzt die dreidimensionale Wirklichkeit nach den Gesetzen der Zentralperspektive in ein in der Regel verkleinertes, zweidimensionales Bild um. Räumlichkeit und Tiefe sind in einer Fotografie nicht mehr vorhanden, sie werden nur noch vorgetäuscht. Trotzdem wird eine gewöhnliche Fotografie von einem im Umgang mit Fotografie geübten  Betrachter als „der Wirklichkeit entsprechend“ identifiziert und genutzt.  In meinen „Simulacra“ dagegen entsteht durch das spielerische Zusammenfügen mehrerer, zum Teil gespiegelter Wirklichkeitsfragmente eine neue, simulierte Wirklichkeit, bei der die übliche Identifikation eines abgebildeten Ortes oder Gegenstandes und die vertraute räumliche Wahrnehmungstäuschung nicht mehr funktionieren.  Das Auge wird bei der Betrachtung der Fotografie irritiert, da sich weder das Abgebildete noch räumliche Tiefe,  Oben und Unten bzw. Vorne und Hinten eindeutig bestimmen lassen. So sollen diese Fotomontagen zum Rätseln und Entdecken sowie zum Schmunzeln und Nachdenken anregen.

( Katalogtext anlässlich der Ausstellung im Saarländischen Künstlerhaus im August 2016 )

 

Bekenntnis zum Medium Fotografie        Werner Rauber   2006

Seit nun mehr über 35 Jahren verwende ich das Medium Fotografie und bin noch immer begeistert von der Fähigkeit der Fotografie, auf schnelle, einfache und relativ preiswerte Weise das von mir Beobachtete als Abbild „aufzeichnen" zu können. Trotz des Wissens, dass diese Abbilder nicht Reproduktionen des Vorgefundenen, sondern Umformungen nach den dem fotografischen Prozess innewohnenden Gesetzmäßigkeiten sind, die allerdings immer auch eine subjektive Beeinflussung enthalten und zulassen, und trotz des Wissens um die Tatsache, dass man mit Fotos nicht nur durch Retusche und ähnliche Manipulationen, sondern schon durch Ausschnittwahl und Standpunkt, durch Textbeigabe und Präsentation in einem bestimmten Kontext die Wahrnehmung des Betrachters beeinflussen kann, halte ich am fotografischen Abbild fest, da es kein anderes Medium gibt, das eine solche Annäherung an die Wirklichkeit erlaubt. Die fotografischen Abbilder haben eine wie auch immer geartete Ähnlichkeit mit dem Abgebildeten, sonst müsste man auf Passfotos, Fotografien von Unfallorten, wissenschaftlichen Fotografien zwecks Vorgangsbeschreibungen, fotografische Reproduktionen von Kunstwerken, Fotografien in Katalogen von Gebrauchsgegenständen usw. verzichten.

Der Fotograf kann durch seine Arbeitsweise dem im Umgang mit Fotografie kundigen Betrachter auch seine Sichtweise der Wirklichkeit nachvollziehbar und überprüfbar vor Augen führen, so dass der Betrachter neue Aspekte der Wirklichkeit kennen lernen kann. Allerdings ist es auch die Aufgabe des Fotografen, dem Betrachter eine der Fotografie angemessene Wahrnehmungsweise aufzuzeigen.

*****

 

Wenn ein Fotograf das Medium Fotografie bewusst und geplant einsetzen will, muss er im Einzelnen reflektieren

- den fotografischen Herstellungsprozess  mit seinen feststehenden Gesetzmäßigkeiten bei der Abbildung der Wirklichkeit  und den Eingriffsmöglichkeiten in diesen Prozess

- die entstandene Fotografie als Bild mit den ihr eigenen visuellen Qualitäten und Eigentümlichkeiten und ihren Wirkungen auf den Betrachter

- die Gebrauchsweisen von Fotografien im allgemeinen und die zu erwartende Gebrauchsweise der geplanten Fotografien in einem bestimmten Kontext.

 

Fotografien  -  fotografische Bilder       ( Werner Rauber 2007 )

Mit der Erfindung der Fotografie begann das Zeitalter der technischen Bilderzeugnisse, d.h. der durch Apparate hergestellten Bilder im Gegensatz zu den traditionellen Bildern wie Zeichnungen und Gemälde, die handwerkliche Produkte sind.  Zu der Fotografie als apparatives  Bildherstellungsverfahren gesellen sich heute weitere Verfahren,  wie z.B. Thermografie, Holografie, Radiografie, Röntgen-Tomografie, Ultraschallkardiografie, Magnetresonanztomografie, Positroen-Emissions-Tomografie, um nur einige stellvertretend zu nennen.

Die neueren apparativen , Bild gebenden Verfahren  dienen heute dazu,  auf unterschiedliche Weise medizinische Befunde oder physikalische und chemische Phänomene aus riesigen Datenmengen zu visualisieren. Allen durch Apparate hergestellten Bildern gemeinsam ist, dass sie Ergebnis naturwissenschaftlichen Forschens sind und einer anderen Betrachtungsweise als traditionelle Bilder bedürfen.

Das fotografische Verfahren basiert auf der Tatsache, 

a) dass Licht Veränderungen in lichtempfindlichen Emulsionen auf Trägermaterial bewirkt, die durch chemische Behandlung (Entwicklung und Fixierung ) sicht- und haltbar gemacht werden können ( analoge Fotografie ) oder 

b) dass Licht Veränderungen in entsprechenden Sensoren bewirkt, die in Helligkeiten und Farben umgerechnet werden ( digitale Fotografie ).

Seit dem Siegeszug der digitalen Fotografie mit ihren radikalen Eingriffsmöglichkeiten in das erzeugte Bild scheint es mir dringend notwendig, dem Betrachter mit eindeutigen Begriffen zu erklären, auf was er sich beim Betrachten einlässt. Deshalb möchte ich den  Vorschlag machen, grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Fotografien und fotografischen Bildern.

1.  Fotografien  möchte ich ausschließlich nicht manipulierte, nicht durch Bildbearbeitungsprogramme veränderte oder aus Bildteilen unterschiedlicher Herkunft zusammengesetzte fotografierte Abbilder nennen, die entstanden sind mit Hilfe einer Kamera und dem fotografischen Verfahren. Fotografien sind immer sowohl Abbild wie auch Bild. Durch die Fotografier- und Präsentationsweise  kann der Fotograf den Schwerpunkt verlagern.

2.  Fotografische Bilder  möchte ich dagegen nennen

2.1. Bilder wie Fotogramme, Luminogramme oder Chemogramme u.ä., die mit Hilfe des fotografischen Verfahrens zum Teil ohne Kamera hergestellt wurden ohne die Absicht, Abbilder der Wirklichkeit zu sein;

2.2. Bilder, die ganz oder teilweise aus fotografierten Abbildern (= Fotografien) bestehen, aber durch Kombination in z.B. Montagen, Collagen oder Tableaus eine fiktionale oder virtuelle Wirklichkeit erzeugen;

2.3. Bilder, die mit Hilfe von Bildbearbeitungsprogrammen manipuliert und/oder zusammengesetzt wurden, um eine fiktionale oder virtuelle Wirklichkeit erstellen.

Eine Kennzeichnungspflicht für solche fotografischen Bilder wäre wünschenswert, da angesichts der Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung Regeln nötiger denn je sind.

Fotografie als Abbild - Fotografie als Bild

Fotografien sind aber ( mit unterschiedlicher Gewichtung ) immer sowohl Abbild wie auch Bild. Durch seine Fotografierweise und die Art und Weise der Präsentation kann der Fotograf den Schwerpunkt verschieben. Fotografierte Abbilder werden mit der Zielsetzung hergestellt, eher Abbilder der Wirklichkeit zu sein und auf diese zu verweisen und bei fotografierten Bildern ist das Abgebildete eher

Mittel zum Zweck.

 

 

Trotz der hier dargestellten idealtypischen Trennung in fotografierte Abbilder und fotografierte Bilder ist zu beachten, dass Fotografien immer sowohl Abbilder als auch Bilder sind. Durch die Fotografierweise und durch die Präsentationsweise kann der Fotograf aber einen gewissen Einfluss nehmen, wie er seine Fotografien betrachtet wissen möchte.

Grundsätzlich ist eine Fotografie wie jedes Bild eine eingegrenzte bzw. begrenzte Fläche, die ausschließlich zur konzentrierten visuellen Wahrnehmung anregt, da andere Sinne ausgeschlossen sind. Obwohl das fotografische Verfahren mit Kamera und üblicher Technik zwar nach feststehenden medienspezifischen Regeln Abbilder erzeugt, die bei der Entstehung/Aufnahme der realen, lichtbeschienenen Objekte bedürfen, kann der Fotograf in den fotografischen Prozess mehr oder weniger stark eingreifen und dies für unterschiedliche fotografische Arbeits- und Aussageweisen nutzen.

In der Fotografie sind folgende grundsätzliche, idealtypisch gegenübergestellte Arbeits- und damit Aussageweisen möglich, die sich aber nicht gegenseitig ausschließen, sondern immer mehr oder weniger miteinander vermengt sind:

eine an der Sache und seinem Abbild orientierte Fotografierweise und eine am Bild orientierte Arbeitsweise, die letztendlich zum autonomen, mit fotografischen Mitteln hergestellten Bild führen kann.

1.1. Fotografierte Abbilder

Zielsetzung jedes fotografierten Abbildes ist die sachgerechte Wiedergabe eines fotografierten Objektes. Das fotografierte Abbild ist dann Repräsentant des Abgebildeten, d.h. es steht für das Abgebildete. Das Abgebildete verweist auf etwas außerhalb ihm selbst Seiendes bzw. Gewesenes. Obwohl das Abgebildete und das fotografische Abbild nicht identisch sind, obwohl eine Fotografie einerseits weder Duplikat noch Kopie der Wirklichkeit ist, sondern durch ihre medienspezifischen Eigenschaften immer „verkürzte, eingeschränkte" Wiedergabe der Wirklichkeit, kann ein an den Umgang mit Fotografien gewöhnter Betrachter ein in einer Fotografie abgebildetes Objekt identifizieren. U. Ecco (1994) meint, dass wir beim Betrachten einer Fotografie eine Wahrnehmungsstruktur erzeugen, wie wir sie auch beim Erkennen und Erinnern eines realen Objektes konstruieren, dass sich also Wahrnehmung der Wirklichkeit und Wahrnehmung einer Fotografie ähneln. Man kann aber ebenso behaupten, dass wir einerseits durch die Dominanz von Wissenschaft und Technik mit ihren Denk- und Sichtweisen und andererseits durch den ständigen, alltäglichen Fotogebrauch in eine fotografische Sichtweise eingeübt sind, nach der wir ( inzwischen ) die Wirklichkeit so sehen, wie sie uns von Fotos dargeboten wird.

Die am Abbild orientierte Sachfotografie kann man, je nach ihrer unterschiedlichen Zielsetzung und Vorgehensweise in etwa unterteilen in dokumentarische Fotografie, Reportagefotografie/journalistische Fotografie, wissenschaftliche Fotografie und Werbefotografie. Dabei sind Annäherungen und Überschneidungen selbstverständlich möglich und üblich. In der Tabelle unten werden vier Bereiche der Sachfotografie idealtypisch gegenübergestellt.

 

 

 

 

 

Texte über meine Fotografie


SICHTWEISEN

Dieses Gespräch mit Werner Rauber führte Nicole Nix im Mai 1997 anläßlich der Ausstellung  "Sichtweisen" in Neunkirchen/Saar,  Galerie im Museum Bürgerhaus

(veröffentlicht im Katalog zur Ausstellung: Werner Rauber, Sichtweisen: Fotografische Arbeiten, 20. Juni - 27. Juli 1997, Galerie im Museum Bürgerhaus, 66538 Neunkirchen, Herausgeber: Neunkircher Kulturgesellschaft gGmbH)

N. N.: Trotz der pluralistischen Erscheinungsformen zeitgenössischer Fotografie ist der Diskurs zwischen den beiden großen Richtungen der sachlich-dokumentierenden Fotografie auf der einen Seite und den Vertretern visualistischer Konzepte auf der anderen noch immer aktuell. Mit Ihren fotografischen Arbeiten bieten Sie dem Betrachter "Sichtweisen" an, d.h. es geht Ihnen weniger um das Motiv und dessen objektive Wiedergabe, als vielmehr um seine möglichen Lesarten. Wie einige Ihrer Werkgruppen zeigen, können diese Sichtweisen aber durchaus auch dokumentarischen Charakter haben. Wo sehen Sie Ihren Standort?

W.R.: Der unterschiedliche Ansatz wird sehr treffend ausgedrückt durch die englische Wendung "to take a picture - to make a picture". Für meine Fotografie möchte ich diese Polarität jedoch nicht gelten lassen, schon weil ich diese beiden fotografischen Arbeitsweisen für mich nicht trennen kann. Fotografie ist zwar immer abhängig von den sichtbaren Gegebenheiten, aber auch das um Objektivität bemühte dokumentarische Foto muß aufgrund der medialen Bedingungen und Einschränkungen fragwürdig bleiben. Deshalb kann Fotografie niemals objektiv sein. Ich finde hier eher einen graduellen Unterschied, der fließend ist. Objektives und Subjektives gehen ineinander über.

N. N.: Was bedeutet das konkret für Ihre fotografische Arbeit, bei der Sie ja seriell vorgehen und unterschiedliche Schwerpunkte setzen?

W.R.: Fotografie ist für mich vor allem ein Hilfsmittel, um mit dem, was ich sehe, umzugehen. Man kann meine Arbeitsweise vergleichen mit dem Notieren von Gedanken, die man später parat haben will, um etwas Bestimmtes zu formulieren. Auf diese Weise fotografiere ich, um dann mit dem "Rohmaterial" umzugehen. Das kann eher dokumentarisch sein - wenn ich beispielsweise wie bei der Serie meiner Bergehalden-Bilder Veränderungen zeigen will, die sich im Laufe der Jahre vollziehen - oder ich benutze dieses fotografische Rohmaterial, um Wirklichkeit neu zu gestalten, weil mir die Fotografie dazu geeignet scheint. Sie ist, entgegen der immer noch weitverbreiteten Meinung, eben nicht das Medium, das Wirklichkeit gültig, wahr und authentisch wiedergibt.

N.N.: Was veranlaßt Sie dazu, eine Bergehalde über nunmehr 26 Jahre hinweg immer wieder vom gleichen Standort aus zu fotografieren?

W.R.: Ausgangspunkt war für mich zunächst der ästhetische Reiz des Motivs. Dann habe ich beobachtet, wie sich dieses Motiv in relativ schneller Zeit verändert. Zum einen natürlich bedingt durch den Wechsel der Jahreszeiten, die den schon bewachsenen Stellen jeweils ein anderes Gesicht gaben, aber die Halde nahm auch von Jahr zu Jahr eine andere Gestalt an. Sie veränderte sich durch Aufschüttungen, also durch Eingriffe des Menschen, wie auch durch die Natur, etwa durch neuen Bewuchs oder Erosionen. Ich werde die Veränderungen weiter fotografisch verfolgen, nicht nur als Dokumentation einer Landschaft, sondern auch als Dokumentation einer Sichtweise.

N. N.: Hat sich denn Ihre Sichtweise, mit der Sie diesem Motiv begegnen, während der Jahre ebenfalls verändert?

W.R.: Ich selbst bin durch diese Arbeit dazu veranlaßt worden, meine Fotografie immer wieder kritisch zu hinterfragen. Rückblickend frage ich: Was von all diesen Jahren halten die Fotos eigentlich fest außer dem ständig wechselnden äußeren Erscheinungsbild? Was wird später noch von der ursprünglichen Bedeutung dieser unbrauchbaren, aufgeschütteten Erde zu erkennen sein, die man wieder der Natur überlassen hat? So hat sich mein Interesse als Fotograf vom Motiv hin zu der grundsätzlichen Überlegung verlagert, was Fotografie überhaupt von der Wirklichkeit wiedergeben kann.

N.N.: Bis sich die Fotografie als Gattung der Kunst etabliert hatte, wurde ihre vermeintliche Authentizität ja kaum infrage gestellt. Erst als sie in den siebziger Jahren begann, ihre Medialität zu reflektieren und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit zu analysieren, gerieten die ihr traditionell zugeschriebenen Wahrheitskriterien ins Wanken. Muß die medienkritische Auseinandersetzung Aufgabe künstlerischer Fotografie sein, um so eine bewußtere Rezeption zu fördern?

W.R.: Ich betrachte dies als eine ihrer wichtigsten Aufgaben, durch die sie sich ja gerade von der Flut der zweckgebundenen Gebrauchsfotografie abgrenzt. Die Allgegenwärtigkeit fotografischer Bilder vermittelt uns nicht Wirklichkeit, sondem ein Konstrukt der Wirklichkeit. Wir sehen die Realität so, wie sie uns die Fotografie liefert, und hier entsteht ein bedenklicher Zirkel: Wir sprechen der Fotografie Realitätsgehalt zu, weil wir inzwischen gelernt haben, fotografisch zu sehen. Eine Chance, diesen Zirkel zu durchbrechen, sehe ich darin, die fehlende Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit im Bild selbst aufzuzeigen.

N.N.: Wie in Ihren aus Einzelfotos komponierten Arbeiten, die den Betrachter absichtlich irritieren, weil sie sich seiner ldentifikationserwartung widersetzen. Etwa indem sie mehrere Sichtweisen eines Motivs aneinanderreihen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen, obwohl sie sich lediglich durch den Wechsel des fotografischen Standpunktes ergeben haben.

W.R.: Ein ganz simples Beispiel dafür, daß man dem, was man im Foto sieht, nicht trauen kann. Eine weitere Möglichkeit des Mediums bietet mir die freie Kombination von Einzelfotos, die ich nach einem von mir geplanten Programm zu einem neuen Gesamtbild zusammensetze. Bei diesem Spiel mit fragmentarischen, fotografisch festgehaltenen Einzeleindrücken, die ich ansonsten nicht weiter verfremde, übertrage ich den Mechanismus, dem unsere Wahrnehmung unterworfen ist, auf die Fotografie. Ich "mache mir ein Bild" aus einzelnen Bruchstücken der Wirklichkeit, die ich aussortiert und nach meinem individuellen Programm geordnet habe - ähnlich wie es unbewußt beim Sehen geschieht. Der Betrachter, der dieses Spiel natürlich durchschaut und die Bruchstückhaftigkeit erkennt, ist dennoch gezwungen, die Arbeit als Gesamtbild wahrzunehmen, das so mit der Wirklichkeit nie übereinstimmen kann.

N. N.: Indem Sie den einzelnen fotografischen Ausschnitt also nicht mehr als wirklichkeitsanaloges Bild präsentieren, sondern in serieller Reihung und damit tatsächlich als Ausschnitt, als Teil eines neuen, so noch nie gesehenen ästhetischen Zusammenhangs, fordern Sie den Betrachter zu ständigen Fragen und zur Reflektion über sein eigenes Sehen heraus. Steht dahinter nicht ein ziemlich didaktisch orientiertes Kunstkonzept?

W.R.: Ein idealistisches, würde ich sagen. Meine fotografische Absicht zielt nicht auf die Reproduktion der Wirklichkeit, sondern sie thematisiert unsere eingeschränkte und vorgeprägte Wahrnehmung dieser Wirklichkeit. Hierin sehe ich eine Möglichkeit der Fotografie, an der "Freiheit des Sehens" mitzuwirken. Doch hinter dieser rationalen, analytischen Ebene darf die ästhetische nicht zurücktreten. Es geht mir letztlich immer darum, ein gutes, stimmiges, oder wenn man so will, ein schönes Bild zu machen, und dies hat sehr viel zu tun mit Sinnlichkeit, mit reiner Augenlust.

***

Werner Rauber: "Vom fotografierten Abbild zum fotografischen Bild" Serien, Sequenzen, Tableaus

Verschriftete Rede zur Eröffnung der Ausstellung in Dagstuhl/Saar von Professor Dr. Dietfried Gerhardus, Philosophisches Institut der Universität des Saarlandes, Mai 2000

Die Fotografie steht im Zenit ihrer Akzeptanzgeschichte als abbildende Bildkunst. Heute scheint sie in der Lage, sich sogar mit der nichtabbildenden Bildkunst zu verschwistern. Doch was "hält" Malerei und Fotografie "im innersten zusammen"? Die sich immer wieder neu stellende Frage nach dem Bild! Blicken wir hundert Jahre zurück.

Um 1900 erlebt die europäische Bildende Kunst einen Grundlagenstreit um die Abbildlichkeit des Bildes, ganz entscheidend mitverursacht durch die rasanten technischen Fortschritte der Fotografie in der Abbildlichkeit, schwarzweiß und bald auch in Farbe. Pikturale Repräsentation gerät in die Krise. Gegenüber den sogenannten Traditionalisten behielten damals die sogenannten Abstraktionalisten die Oberhand. Beiden Parteien ging es um die Befreiung des Bildes vom Abbild zum Bild. Dieser Grundlagenstreit spitzte sich in Deutschland zu z. B. zwischen dem Traditionalisten Max Beckmann und dem Abstraktionalisten Franz Marc, ungeachtet dessen, daß sich beide Künstler einem kritischen Bildbegriff verpflichtet fühlten. Die Wahl zwischen abbildendem, depiktivem oder bildendem, piktivem Bild ist am besten greifbar im Gliederungswechsel von der altehrwürdigen relationalen Bildkomposition, verstanden als hierarchisierendes Ausponderieren, zur computergeeigneten nicht relationalen Bildsyntax, verstanden als symmetrische gleichgewichtende Reihung, die auf das Bild als Eigenschaftsträger verwiesen bleibt.

Auf seiten der Fotografie ist das im wesentlichen apparative Zustande-bringen einer Abbildung heute bereits zu einem sowohl technik- als auch wissenschaftsgeschichtlichen Phänomen geworden. Damit scheint mindestens sichergestellt, daß die drängenden Fragen einer Fotobildsemantik nicht mehr mit den technischen Details apparativer Generierung eines Abbildes verwechselt werden. Nicht erst seit der Computer als digitales Fotolabor genutzt wird, sondern auch dazu, fotografische Bilder mediengerecht zu simulieren, steht in der gegenwärtigen Fotografie als Bildkunst die Abbildfunktion als Bindeglied zwischen Wirklichkeitsausschnitt und fotobildlicher Darstellung praktisch wie theoretisch auf dem Prüfstand. In der fotobildlichen Praxis unter der Überschrift "Gestaltung des Fotobildes im Rahmen technisch-apparativer Abbildlichkeit", in der Theorie des Fotobildes unter dem Titel der begrifflichen Gegenüberstellung von "Abbildfunktion und Bildfunktion".

In der heutigen Bildkunst, meine Damen und Herrn, stellt sich Werner Rauber dieser fotografischen Aufgabe. Sie bildet den Schwerpunkt in dieser Überblicksausstellung seiner Fotoarbeiten. Werner Rauber geht den Weg "Vom fotografierten Abbild zum fotografischen Bild", so der von ihm ausdrücklich gewählte Titel dieser Ausstellung. Im Untertitel, und darauf möchte ich eigens aufmerksam machen, verweist er nicht wie sonst üblich auf abbildend gewonnene Themen seiner "Fotoarbeiten", sondern auf deren präsentative Gliederungstypen: "Serien, Sequenzen, Tableaus". Mediengerechtheit versteht Werner Rauber als gestalterischen Handlungsspielraum, insofern er standardisierte Teile des fotografischen Mediums erkundet und auf ihre Bildmäßigkeit hin erprobt. Sein Metier ist nach wie vor die klassische Schwarzweißfotografie mit Kleinbild und Mittelformat als technischer Basis. Aus einem ganz einfachen Grund. Schon in der Erfindungsphase der Fotografie wurde Schwarzweiß als medieneigenes und obendrein nicht mit Abbildlichkeit im engeren Sinne zu verrechnendes Gestaltungsmittel erkannt und zügig entwickelt. Übrigens: Der ebenfalls sehr frühzeitig angestellte Vergleich der Schwarzweißfotografie mit der Handzeichnung bedarf nach wie vor des sorgfältigen Studiums und der begrifflichen Ausarbeitung.

Durch Belichtung und Entwicklung liefert das heute handelsübliche Material des Rollfilms einen Bild an Bild reihenden Negativstreifen, der gern zum Zweck der Einzelbildbeurteilung durch Kontaktstreifen bzw. Kontaktbögen als Positiv schon vor der Vergrößerung lesbar gemacht wird. Das Gitterwerk des Kontaktbogens zeigt in jeweils gleicher Größe wie das Negativ, schwarz gerahmt, die Einzelbilder. Diese durch Belichtung, Entwicklung und Kontaktbogen erschlossene Gitterstruktur verwendet Werner Rauber als Modell für die Gliederung seiner Fotoarbeiten, die Serie als Folge variierender Einzelbilder, die Sequenz als eigens geregelte Abfolge von Einzelbildern, etwa in der Ordnung des Nacheinanders von Aufnahmen des gleichen Motivs. In seinen Tableaus schließlich werden beide Gliederungstypen im horizontal-vertikalen Wechsel miteinander verschränkt. Strikt vertikal von unten nach oben oder strikt frontal ein Motiv aufzunehmen sind für Werner Rauber geeignete gestalterische Maßnahmen, insbesondere zentralperspektivische Vorgaben des technisch-apparativen Systems zu unterlaufen, das einzelne Fotobild in der Fläche zu halten und von temporalen (z. B. Tageszeiten, Jahreszeiten) bzw. topografischen Konnotationen (z. B. an diesem oder jenem Bauwerk aufgenommen) zu entblößen. Diese schon mit der Aufnahme eingeleiteten Maßnahmen werden in der seriellen oder sequenziellen Präsentation eigens unterstrichen. Als Beispiele dazu "Architekturen 1997" oder "Treppe 1992". Angesichts solcher Fotoarbeiten entpuppt sich eine der an Fotografen am häufigsten gestellten Frage: "Wo oder wann haben Sie das Bild gemacht?" als Scheinfrage.

Eine Bemerkung zu den gegenständlichen Aspekten in den Fotoarbeiten von Werner Rauber. Zum einen geht es um Natur, weniger als von selbst entstandene, vielmehr als durchkultivierte Landschaft, zum andern um selbstgemachte, hauptsächlich urbane Umwelt, als Architektur vor allem. Doch Werner Rauber behandelt keine natürlichen oder kultürliche Gegenstände im Ganzen. Meistens verwendet er nur ausgesuchte Details als gestalterische Mittel. Im komplexen Vorgang des Fotografierens von der Motivsuche bis zum fertigen Fotobild verwandelt er diese in geeignete Bildmittel, um Sichtweisen als visuelle "Weisen der Welterzeugung" (Goodman) zu vermitteln mit der Pointe, daß Unmittelbarkeit auch fotografisch nicht zu vermitteln ist.

Die zur fotografischen Gestaltung der Mittelbarkeit in Gang gesetzten syntakto-semantischen Prozesse sind bei Werner Rauber durchgehend im Handeln fundiert. Er arbeitet daran, Entstehung von Sichtweisen durchschaubar zu machen. Beim Erzeugen fotografierter Abbilder geht es zunächst darum, aus der unser alltägliches Handeln begleitenden Wahrnehmung Sehweisen zu isolieren. Anhand dieser in Serien oder Sequenzen präsentierten Abbilder werden im fotografischen Bild Sichtweisen als selbständige visuelle Wahrnehmungsweisen emanzipiert mit dem Ziel, die fotografische Weltsicht kenntlich und somit kritisierbar zu machen. Dazu verwendet Werner Rauber etwa in "Landschaft mit 2 Bäumen" von 1993 das situative Nicht-sehen-Können als standortgebundenes Nicht-fotografieren-Können: ein motivisches Anfangsstück, paradigmatisch eingesetzt, um "Familienähnlichkeiten" Wittgensteinscher Prägung in fotobildlich provozierten Sichtweisen aufzudecken. Ludwig Wittgenstein erläutert in § 66 seiner "Philosophischen Untersuchungen": "...wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. (...) denk nicht, sondern schau!"

***

Wirklichkeit als ,,Rohmaterial" von Dr. Sabine Graf

Seit Anfang der achtziger Jahre beschäftigt sich Werner Rauber intensiv mit der Fotografie. Mit seinen Bildern will der Künstler die eingeschränkte und vorgeprägte Wahrnehmung unserer Wirklichkeit thematisieren.

Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, dass ein Foto mehr als die Oberfläche einer Sache, eines Menschen, der Welt abbilde, stellte Bertolt Brecht fest. "Authentisch" und "analog zur Wirklichkeit" ist vielmehr das, was sie gestaltet. Die im Englischen gebräuchlichen Fügungen "to make a picture - to take a picture", frei übersetzt "ein Bild machen" und "ein Bild nehmen", aus der Wirklichkeit heraus lösen, damit kann sich der Saarbrücker Fotograf Werner Rauber eher anfreunden, bekannte er in einem Interview, das die Leiterin der Galerie im Bürgerhaus Nicole Nix vor drei Jahren mit ihm führte.

Damals zeigte die Neunkircher Galerie Arbeiten des 1950 in Dudweiler geborenen Fotografen. Gerade ging eine Ausstellung im Internationalen Begegnungs- und Forschungszentrum für Informatik, Schloss Dagstuhl, zu Ende. Auch diese Werkschau, überschrieben mit "Vom fotografierten Abbild zum fotografischen Bild" gab einen Überblick über die Sichtweisen Raubers. Für ihn steht fest, dass eine um Objektivität bemühte und dem Dokumentarischen Priorität einräumende Fotografie fragwürdig ist.

Gewiss, objektive Begebenheiten sind vorhanden, doch auf Grund "der medialen Bedingungen und Einschränkungen" verwässern sie im Bild. Objektivität des Gegebenen und Subjektivität des Fotografen sorgen ihm für fließende Übergänge. Dergestalt, dass die Wirklichkeit als Sonnenblume, Baum oder Bergehalde sein, wie er sagt, "Rohmaterial" ist.

Ein Foto genügt dabei nie. Es müssen ,,Serien, Sequenzen, Tableaus" sein, die das Mitglied des Saarländischen Künstlerbundes zum Quadrat organisiert oder zur Abfolge reiht. Zeit spielt dabei eine Rolle und ist zugleich außen vor. Über 26 Jahre fotografierte Werner Rauber eine Bergehalde. Dokumentierte die Veränderung und zugleich, fügt er hinzu, seine sich verändernde Sichtweise. Als Komposition konzentrieren sie einerseits den Zeitverlauf und heben ihn andererseits auf. Die Folgen imitieren. Ein bewusster Akt, betont Rauber.

Nach einem je individuellen Programm setzt er die Fotos neu zusammen. Bewegung löst sich auf in Form. Die Horizontlinien seiner Landschaften gehorchen einem bestimmten Rhythmus. Das Auge stockt, bleibt an den Einzelbildern hängen. Sie sind nur im Gesamtbild einer Komposition zu fassen, aber dennoch nicht vollends zusammenzubringen. Sprünge, Irritationen setzt Werner Rauber bewusst ein, sagt er, um den Betrachter im Bild zu halten. Treppenstufen kombiniert er zu Mosaiken in sanften Grautönen. Modernistische Hausdächer werden zu düsteren Plastiken vor unentschieden grauem Himmel.

Details der Architektur hat Werner Rauber in den Arbeiten der letzten Jahre immer wieder herausgegriffen und neu formiert. Ebenso die krakeligen, dürren Arme von winter-kahlen Platanen, die in die Luft greifen. Man glaubt, die Orte zu kennen und scheitert doch immer wieder, wenn man die Bilder auf ihr reales Abbild zurückführen will.

Das Prinzip Rauber erweist sich nicht nur, aber vor allem in diesen Momenten als voll gültig. Wir müssen lernen uns von der Verbindung zum Tatsächlichen zu verabschieden. "Das Bild steht für sich", greift er eine Haltung der Fotokunst auf. Ob das nicht ziemlich didaktisch wäre?, fragte seinerzeit Nicole Nix den Fotografen.  "Idealistisch", meinte er, wäre das bessere Wort. "Meine fotografische Absicht zielt nicht auf die Reproduktion der Wirklichkeit, sondern sie thematisiert unsere eingeschränkte und vorgeprägte Wahrnehmung dieser Wirklichkeit. Hierin sehe ich eine Möglichkeit der Fotografie, an der "Freiheit des Sehens" mitzuwirken‘, fasste er sein künstlerisches Credo zusammen.

Dass ihm dabei die Qualität seiner Fotos nicht einerlei ist, sondern ein so genanntes "schönes Bild" beabsichtigt ist und die "Augenlust" befeuert werden soll, gehöre für ihn ebenfalls zu seinem Schaffen, schickte er nach. Das geschieht mit der gebotenen Langsamkeit. auch wenn die in ihrer Bewegung das Abbild verwischenden Autos auf einer Straße das Gegenteil vermuten ließen. Auch sie ein Bild. umso mehr als sie nur noch zu ahnen, als zu erkennen sind.

Als "äußerst gemächlich", beschreibt er seine Arbeitsweise. Erst Anfang der achtziger Jahre begann er sich intensiv mit der Fotografie zu beschäftigen, geleitet von den Fragen "Was mache ich eigentlich?", "Was will ich eigentlich?" Viel ausprobiert habe er in diesen Jahren, erzählt Werner Rauber. In Ruhe. Ja nicht heute etwas machen und morgen irgendwo ausstellen. Mitte der achtziger Jahre begann er allmählich bei den Vorläufern der späteren Landeskunstausstellung seine Arbeiten zu zeigen. Seit ein paar Jahren ist er von allen großen Ausstellungen, die hier zu Lande stattfinden, nicht mehr wegzudenken. Zusammen mit einer Hand voll im Saarland lebender Fotografinnen und Fotografen zeigte er vor zwei Jahren im Dillinger Schloss seine Arbeiten. Auch das ein Beweis. dass er mit seiner Fotografie einen Akzent in der Region setzt. So viel lässt sich über die Person des Fotografen sagen. Was zählt, was bleibt, ist das Bild. Nicht das Abbild der Wirklichkeit. Es hinkt ihr hinterher wie der müde Hase dem kecken Igel. "Im Bild bleiben", sagt Werner Rauber", ist wichtig. Und schauen was passiert." Das mag letztlich auch einen neuen Blick auf die Wirklichkeit jenseits des Bildes eröffnen.

 

erschienen in "Arbeitnehmer", Heft 8, August 2000, Zeitschrift der Arbeitskammer des Saarlandes